Es scheint den Helden als ob sie schrumpfen würden. Nicht körperlich, sondern seelisch. Jahre der Erfahrungen und Abenteuer blättern von ihnen wie trocknender Ton ab. Wie in einem tosenden Wasserfall stürzen sie in ihre Jugend hinab, in ihre Kindheit, zu ihrer Geburt – und darüber hinaus. Reduziert auf das, was vielleicht ihre unsterbliche Seele ist, stürzen sie trudelnd abwärts in einen endlosen, blau schimmernden Schacht. Bisweilen wird ihre Geschwindigkeit so hoch, daß ihnen die Sinne schwinden, dann wieder scheinen sie zu verzögern, und sie ahnen Schlachtenlärm, Feuerschein oder Jubel um sie herum.
Sie sind von einem Netz blauer, weißer und schwarzer Fäden umgeben, die sich hinter ihnen schmerzhaft ins Unendliche dehnen, während sie abwärts stürzen. Ein Gefühl eines großen Verstoßes gegen alles, was heilig und natürlich ist erfüllt sie.
Als sie wieder eine Zone der Verzögerung passieren an dem sie Bruchstücke der Geschehnisse wahrnehmen können, einem entscheidenden Punkt in der Geschichte, an dem hunderte von Ereignissträngen zusammenlaufen, erinnern sie sich plötzlich an den Ausdruck: “karmatische Kausalknoten”.
Tejeran, der im Taumel des Fallens, seinen Zauberstab davontreiben sieht, greift entschlossen nach ihm und kann ihn noch festhalten, bevor er in der vorbeirasenden Vergangenheit verschwindet. Dariyon tut es ihm gleich und es kostet die beiden Zauberer unglaubliche Geschicklichkeit und Geistesschnelle um die ständigen Strudel und Stürze vorherzusehen und die Artefakte festzuhalten während sie von einem Kausalknoten in den nächsten hinabstürzen.
Das hellblaue Schimmern ist ganz plötzlich verschwunden, schneller als es gekommen war. Fackellicht. Grässlicher Gestank – oder haben die Helden ihn selber mitgebracht?
Ein Beschwörungsraum mit Kerzen.
Die Helden stehen inmitten eines Tridekagrammes, eines Dreizehnecks mit eingeschriebenem Stern. Sie verharren ohne jeden Schwung in ihrer jeweils letzten Bewegung.
Sie sind nackt. Wie Rauhreif hat sich gelblicher Schwefel eiskalt auf ihr Haar und ihre Haut gelegt.
Vor ihnen steht ein weißbärtiger Mann mit der hellen, ungebräunten Haut des Akademikers, barfuß, nur mit einer Tunika mit Silbergürtel bekleidet.
Es gibt keinen Zweifel, wer der Magier vor den Helden ist. Tejeran, der gerade diesen Abend das Meisterwerk des Golodion Seemond bewundert hat, haucht ehrfürchtig: “Rohal der Weise”.
“Aha, die größten Helden des Zeitalters. – Wir rechnen Anno 590 seit dem Fall des vieltürmigen Bosparan. Ist Euch solche Datierung geläufig?”, fragt der Weise als die Helden sich gesammelt haben und festellen, dass von all den Personen im Ulmenkabinett offenbar nur sie und Raidri Conchobair von der Magie des Rings des Satinav erfasst worden sind.
Während sie den Worten lauschen, beginnen die Helden den Raum um sie herum wahrzunehmen: ein Tisch mit Kleidung und Waffen, ein verhängter Lehnstuhl, ein zweites Tischchen mit zwei Artefakten, drei verhängte Wandbilder und Regale, dazwischen mehrere Korridore mit einem merkwürdig grauen Schimmern in verschiedenen Richtungen.
“Allheute ist der 22. Tag des Boron Anno 129 seit dem Sturze der Praios-Tryannen. Seit einem halben Mond marschieret ein Heerbann der tapfersten Recken, Geweihten und Magi auf die Schwarze Feste zu.
Borbarad ist im Begriffe, das größte Daimonenheer aller Zeiten zu beschwören. Sich während dieser Zeit zu wappnen, hat er das alte echsische Ritual des Fran-Horas vollführet, welches die Lebenskraft in einen Fokus projeziert, so daß der Magus unverwundbar ist und keinen leiblichen Bedarf mehr hat. Die verborgene Lebenskraft kann Borbarad jedoch nur nutzen, solange sie frei ist.
Ihr nun kommet aus der Zukunft — will sagen: der mir relativen Zukunft – um dies zu verhindern. Denn meine Mannen sind verraten, ihr Schicksal aufs Grausigste besiegelt, Euch alleine kennet Borbarad nicht.
Ihr alleine vermöget, in die Schwarze Feste einzudringen, das Kristallherz des Borbarad zu erobern, die Lebenskraft mit einem magischen Netze zu fesseln, und sodann – dies erst ist der grimmige Teil – das gefangene Herz zu bewachen. Denn falls Borbarad den Plan durchschaut, wird er manche Attacke senden, um das Kristallherz zu erobern.
Eure eigene Gegenwart, ja wohl Euer ganzes Sein, hängt davon ab, daß Ihr bestehet. Darum werdet Ihr obsiegen, notfalls unter Aufgabe Eurer gesamten Kraft des Lebens oder des Astralen oder Teurerem.”
Die Helden hören dem Weisen aufmerksam zu und prüfen den Plan, den er ihnen erklärt.
“Wäre es uns nicht möglich Borbarad zu vernichten indem wir das Kristallherz zerschlagen?”, fragt der maraskanische Zauberer.
“Das würde die Lebenskraft wieder freisetzen. Borbarad würde dies merken, wäre gewarnt und würde ein neues Kristallherz erschaffen. Mit dem Netz könnt ihr das Zauberband unbemerkt unterbrechen, denn nur wenn Borbarad nicht merkt, dass er von seiner Lebenskraft abgeschirmt ist, dann kann der Plan gelingen.”
Tejeran: “Und wie können wir an das Kristallherz gelangen?”
“Die Schwarze Feste ist Aufgrund des Aufmarsches der beiden Armeen sogut wie verlassen. Seid dennoch vorsichtig.”
Nun deutet der Weise mit einladender Geste auf den großen Tisch im Hintergrund: “Sintemalen es notwendig und möglich ward, allein Eure Leiber dem Sat’Nav zu entreißen, habe ich mancherlei Armorium und Nützliches für Euch bereitet.”
“Wappnung und Werkzeug sind nach bester Erkenntnis der Clarobservantia über die Schwarze Feste zusammengestellet”, erklärt der Weise.
“Sparet Eure lllumination. Es ist nicht Eure Mission, die Feste zu erkunden. Euer harret kurze Suche und lange Wacht. Für diese nehmet die Laterne.”
Nachdem die Helden die Ausrüstung verteilt haben und beginnen, sie anzulegen, wendet der Weise sich wieder mit einladender Geste zu dem zweiten Tischchen: “Ad primo: Der Schlüssel zur Schwarzen Feste.”
Er zeigt der Gruppe einen typischen, fast ellenlangen Burgschlüssel aus einem regenbogenfarben, gleißenden Metall und deutet dann auf einen der halbrealen Korridore, in dem das graue Nichts wabert.
“Betretet jenen Tunnel der Sphären, bleibet nahe beisammen, weichet nicht voneinander und wünschet Euch beständig, gen Mittag zu fahren. Der Schlüssel wird Euch im Augenblicke das Tor weisen und öffnen. Sodann wandelt zur Feste, meidet das offenbare Portal, findet den wahren Eingang, und wiederum wird der Schlüssel Euch das Tor weisen und öffnen.”
Mit diesen Worten reicht er Dariyon den Schlüssel, wobei er ihm ernst in die Augen blickt.
Nach kurzer Pause nimmt der Magier von dem Tischchen ein silbernes Geflecht von etwa Schildgröße. “Ad sekundo: das Netz. Werft es über das Kristallherz, seine Macht zu binden. So Ihr von dannen wollet, hüllet und traget das Herz vorsichtig im Netze. Niemals darf auch nur eine Facette unbedeckt sein, niemals dürfen Herz und Netz ohne Wächter sein.”
Wiederum reicht er Dariyon das Netz, diesmal mit beiden Händen, wobei sein Blick wiederum prüfend auf dem Helden ruht.
Das Geflecht ist aus dünnen gedrehten Seidenbändern, die mit feinstem Silberdraht durchwirkt sind. (In der Schneiderei Brokat genannt)
Die Maschendichte läßt es allenfalls zu, einen kleinen Finger hindurchzustecken.
Die Helden betreten den Sphärentunnel. Vor ihnen liegt graues, formloses, waberndes Nichts. Ein, zwei Schritte, und sie beginnen zu fallen.
Vorwärts? Abwärts? Ein seltsames Prickeln gleitet über ihre Haut. Der Klang der Sphären dringt ihnen dumpf verwischt entgegen, ohne, dass sie tatsächlich etwas hören könnten.
Als die Gefährten dem anführenden Dariyon folgen, nehmen sie sich gegenseitig als dunklere, klar abgegrenzte Silhouette wahr: kein Geräusch ist zu hören.
Der Limbus, von vielen als die Essenz des Ewigen Los zwischen den Sphären verstanden, erhielt seine heutige Form und Bedeutung durch die Machenschaften Madas, und dann die des Namenlosen.
Die Helden wünschen sich gen Mittag und fallen weiter und immer weiter, in einem rasenden Tempo. Dem Tunnel folgend erreichen sie binnen Sekunden das Tor, der Schlüssel leuchtet auf, und ein PLANASTRALE ANDERWELT öffnet ein mannsgroßes Portal, durch das man den roten Sand der Gorischen Wüste sehen kann.