In der Dämonenbrache, Garetien, Mittelreich
Milchiges Licht sickert durch ihre halb geschlossenen Augenlider und verstärkt ihre Qualen. Der unerbittliche Schmerz, der sich in ihrem Kopf ausgebreitet hat, verursacht ihr Übelkeit. Sie ist verwirrt und weiß nicht, wo sie sich befindet. Kopf, Gesicht und Hals sind nass, kalt und verschmiert.
Ihr Kopf fühlt sich an, als wäre er viel zu groß, aufgebläht und unförmig. Etwas Feuchtes hängt über ihrem Auge und hält das Licht ab. Unter ihrem Kopf ist ein Rucksack gestopft worden, der ihr als Kissen dient. Ihr Kopf liegt so schief, dass ihr der Nacken wehtut. Sie stützt sich auf den Ellbogen und blinzelt. Ihr leerer Magen rebelliert.
Über ihr sieht sie das Laubdach des Unterstands. Durch ihre zusammengekniffenen Augen kann sie es erkennen. Sie ist mit zwei Schlafsäcken zugedeckt. Vorsichtig fasst sie sich an die Stirn, wo der bohrende Schmerz, der sich in ihrem Kopf ausbreitet, seinen Ursprung hat. Um ihren Kopf ist etwas weiches Lockeres gewickelt, das an den Ohren und am Hinterkopf fester anliegt. Sie schluckt und spürt ihre ausgetrocknete, geschwollene Kehle. Wasser. Sie muss unbedingt etwas trinken. Sie hustet.
"Quin."
Sie hört wie Steine knirschen, als jemand darüber geht. Das Klackern eines Stocks folgt, dann ein angestrengtes Keuchen. Sie dreht sich in Richtung der Geräusche und schließt die Augen, als ein schlimmer Schmerz eine Seite ihres Kopfes durchzuckt. Es tut so weh, dass sie sich beinahe übergibt. Schädelbruch. Oh Scheiße, oh Scheiße, oh Scheiße. Mit einem Mal wird ihr schwindelig. Sie dreht sich wieder in ihre Ausgangsposition und legt den Kopf auf den Rucksack.
"Praiala. Ein Glück, dass ihr wieder wach seid. Ich hab mich schon gefragt, ob ihr im Koma liegt", sagt Quin. Er ist so dicht neben ihr, dass Praiala seinen scharfen Atem und den öligen Geruch seiner dreckigen Klamotten riechen kann.
"Gibt’s noch Wasser?"
"Das letzte ist hier in meinem Wasserschlauch. Ich hab das meiste für euren Kopf verbraucht. Ich musste ihn waschen, bevor ich den Verband anlegen konnte."
Quin drückt Praiala den Wasserschlauch an die Lippen und flößt ihr etwas Wasser ein.
"Wie spät ist es?"
"Schon fast Mittag."
"Oh, nein."
"Ihr seid völlig weggetreten gewesen. Das Ding hat euer Gesicht übel zugerichtet. Ihr müsst unbedingt genäht werden."
"Ist es sehr schlimm?", murmelt sie und kommt sich dumm dabei vor. Woher sollte Quin das wissen?
"Das Gute ist, dass es nicht zurückgekommen ist, nachdem ihr es getroffen habt. Was habt ihr denn gemacht? Es mit dem Sonnenszepter angegriffen? Mann, das war ein unglaubliches Gebrüll! Ihr habt es verletzt. Ihr habt es ganz bestimmt verletzt."
Praiala blinzelt durch ein Auge hindurch, durch das, das sie am leichtesten aufbekommt.
"Ich hab einen Stein geworfen."
"Einen Stein?"
"Hmhm."
"Und getroffen."
Praiala versucht zu grinsen, aber das tut schon wieder unglaublich weh.
"Wie schlimm ist es denn? Mit meinem Kopf, meine ich. Und erzähl mir keinen Scheiß."
Quin schweigt eine Weile und schaut seine Stiefel an, dann wendet er sich wieder Praiala zu und verzieht das Gesicht.
"Ich hab noch nie so viel Blut gesehen, aber das hat nicht unbedingt was zu sagen. Muss nicht heißen, dass es wirklich ernst ist oder so. Im Kopf ist mehr Blut als überall sonst im Körper. Glaube ich jedenfalls. Deshalb sehen Kopfverletzungen immer übel aus."
"Scheiße." Kopfverletzung – dieses Wort macht sie kribbelig, und dann durchzuckt es sie eiskalt. Es könnte wirklich schlimm sein: Schädelbruch oder Gehirnerschütterung, was ihre Übelkeit erklären würde. Vielleicht ja sogar ein Blutgerinnsel oder ein Gehirntrauma, das sofort geheilt werden muss, um bleibende Schäden abzuwenden. Wunden die behandelt werden müssen und zwar sofort.
Panik erfasst sie und gesellt sich zu dem zermürbenden Schmerz, der ständig rote, flammenartige Flecken durch ihr Gesichtsfeld schickt. Sie holt tief Luft und erschauert bis in die Zehenspitzen.
"Ihr wart von oben bis unten voll damit. Ich wusste nicht, wie schlimm es war, bis die Sonne aufging. Beinahe hätte es mich umgehauen. Aber wir haben es geschafft. Wir haben bis zum Morgen durchgehalten. Kaum zu glauben, was?"
"Heilmittel. Haben wir noch einen Heiltrank?"
"Tut mir leid. Den habt ihr mir gestern wegen des Knies gegeben."
"Ich glaube nicht, dass ich überhaupt aufstehen kann."
Quin schweigt eine Weile.
"Dann sind wir am Ende", sagt er schließlich mit einer Stimme, in der jede Wärme und überhaupt jeder Ausdruck fehlt. Seine Worte klingen dünn und schwach, es ist die Stimme der Verzweiflung, die Stimme von gestern. Er schlurft zur Feuerstelle zurück und sieht schweigend zu Boden.
"Wir brauchen Wasser. Dringend. Ich muss was trinken. Und mir meinen Kopf ansehen. Hast du einen Rasierspiegel oder sowas dabei."
"Macht mal langsam."
"Vielleicht kann ich die Wunde mit etwas heißem Wasser sterilisieren."
"Sch-sch, lass …"
"Antiseptikum. Ich hatten doch Wundpulver und Einbeerensaft mit."
"Das ist alles weg. Ich war wohl wegen meines Knies ein bisschen gierig, was das betrifft."
"Verdammt." Ihr Gesicht verzerrt sich. Jeden Moment könnte sie in Tränen ausbrechen.
"Macht erstmal langsam, Praiala. Kommt langsam zu euch. Versucht, einen klaren Kopf zu bekommen. Es ist nur eine Fleischwunde. Eine Beule. Sieht schlimmer aus, als es ist."
Versucht Quin nur, sie zu trösten, oder stimmt es wirklich? Das ist schwer zu sagen, aber es beruhigt sie doch ein wenig, denn sie hat ja nichts weiter an das sie sich halten kann, außer diesen vagen Aussagen.
Quin reicht ihr erneut den Wasserschlauch.
"Lasst uns erstmal was trinken. Dann überlegen wir, was wir als Nächstes tun können."
Sie brauchen eine halbe Stunde, um die südliche Seite des Hügels hinabzusteigen. Als sie es geschafft haben, machen sie eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen und ihre verschiedenen Schmerzen abklingen zu lassen. Schließlich blicken sie zu dem silbrig-grünen Blätterdach über ihnen, das sich in dem kalten Wind bewegt, der seit Kurzem über den Hügel bläst.
Außer den zwei Schlafsäcken, dem Südweiser, Feuerstein und Zunder, den Waffen und den Sturmlaternen haben sie alles an ihrem Lagerplatz auf dem Hügel zurückgelassen. An dem einsamen und trostlosen Ort, wo sie eigentlich schon ihr Ende hätten finden sollen. Die Überbleibsel eines verloren gegangenen Trupps von Wanderern. Letzte Zeugnisse von Menschen, die in einen Wald eingedrungen waren, den kein Sterblicher betreten sollte.
Nun stehen sie auf dem dünnen Erdboden, der den felsigen Untergrund bedeckt, am Fuß des Hügels und starren in die dunklen Tannen, die in dem weichen Licht beinahe feierlich wirken und sie zu erwarten scheinen. Weiter drinnen im dunklen kalten Urwald erhebt sich eine Mauer aus Gestrüpp um die wenigen letzten Weiden, hinter denen sich viel höhere Tannen und Fichten nach oben recken, die dort dominieren, wo die Erde tiefer ist.
Als sie in den Wald spähen und sich an Sonnenstand und Südweiser orientieren, um Richtung Osten weiterzugehen, bemerken sie, wie uneben der Boden von hier ab ist. Ein hügeliges Auf und Ab erwartet sie, über das sich eine Heerschar von Bäumen erstreckt, die nur dort zurückweichen, wo der felsige Untergrund zum Vorschein kommt, den der Moosbewuchs glitschig macht. Es ist ein Anblick, der Praiala entmutigt, noch bevor sie überhaupt losgegangen sind. Sie werden einen weiteren Tag hier herumirren, geplagt von Schmerzen, die sie bei jedem Schritt überfallen, ja bei jeder Bewegung, die sie machen, so schlimm sind sie verletzt. Und heute werden sie noch langsamer vorankommen als am Tag zuvor. Praiala schließt die Augen und versucht, sich zu entspannen. Tatsächlich ist sie schon am Ende, bevor sie überhaupt angefangen hat, und das weiß sie nur zu gut.
Quins dilettantisch angebrachter Verband hat sich von ihrem Kopf gelöst und ist heruntergefallen, kaum dass sie ein paar Schritte gegangen war. Immerhin hat er die Blutung zum Stillstand gebracht. Die ganze Zeit während sie bewusstlos war, hatte sie Blut verloren. Die Schnittwunde verläuft von der linken Augenbraue über ihre Stirn bis unter ihren Haarschopf. Sie ist rosa und liegt offen da wie ein zweiter schräg verlaufender Mund. Sie hat die Klinge von Quins Messer als behelfsmäßigen Spiegel benutzt, um es sich anzusehen, und glaubt in der Wunde ein Stück freigelegten Knochen gesehen zu haben. Der Schnitt ist mindestens zwölf Halbfinger lang und muss unbedingt so schnell wie möglich genäht werden.
Mit dem letzten Stück Verbandszeug aus ihrem Gepäck hat sie die Wunde mit dem Rest des Wassers abgetupft und versucht, nicht zu laut aufzuschreien, wenn sie sie berührte. Quin konnte nicht hinsehen, als sie die fleischige Wunde versorgte. Dann hatte sie die Kompresse unter die schmutzige Bandage gelegt und vorsichtig um ihren Kopf gebunden. Quin hatte das Ganze dann mit einem Knoten fixiert.
Der schlimmste Anblick für Praiala war der ihres eigenen blutüberströmten Gesichts gewesen, das sie kaum wiedererkannte, als sie in den improvisierten Spiegel blickte. Das Wasser, das Quin über ihren Kopf gegossen hatte, hatte nicht das Gesicht gesäubert. Der größte Teil des verkrusteten Bluts klebt noch da, wo es in breiten Rinnsalen herabgelaufen war. Die eine Seite ihres Gesichts ist aufgrund einer Prellung purpurrot verfärbt und dunkel verschmiert von dem Schmutz, der ihr Gesicht und ihren Hals ohnehin schon bedeckt. Ihr linkes Ohr ist überkrustet von getrocknetem Blut, und es sieht aus, als hätte man diese Seite ihres Kopfes in ein Blutbad gehalten. Wenn sie jemals hier herauskommen, wird sie für den Rest ihres Lebens übel gezeichnet sein. Ihr blutiges Gesicht und der Gedanke an diese klaffende rosa Wunde verursachen ihr noch mehr Übelkeit, und unendliches Selbstmitleid übermannt sie.
Jetzt brauchen sie beide eine Krücke. Quin hat einen nassen Ast für Praiala gefunden. Und nun schleppen sie beide stöhnend ihre geschundenen Körper auf schmerzenden Beinen zwischen den uralten Bäumen hindurch.
Während sie gehen, kann Praiala kein Wort an Quin richten. Schweigend deutet sie mit der freien Hand auf Lücken im Wald, die schätzungsweise in die richtige Richtung führen. Den Südweiser trägt sie unter ihrer Kleidung. Öfter als nötig nimmt sie ihn heraus, um zu überprüfen, ob sie weiterhin ungefähr zumindest in dieselbe Richtung laufen, jenem Weg folgen, den sie sich zurechtgelegt hatte, als sie auf den Baum gestiegen war.
Miteinander zu sprechen würde nur das Bisschen an Kraft verbrauchen, das ihnen noch geblieben ist. Schon ein kurzer Blickwechsel könnte den anderen so weit aus dem Gleichgewicht bringen, dass er sich noch langsamer und vorsichtiger als ohnehin schon vorwärtsbewegt. Sie bleiben dicht beieinander, aber vermeiden gleichzeitig einander zu nahe zu kommen.
Praiala behält das Sonnenszepter die ganze Zeit über in der Hand, hat aber so große Schwierigkeiten das Gleichgewicht zu halten und leidet derart unter den pochenden Schmerzen in ihrem Kopf, dass sie überhaupt keine Kraft mehr hätte um sich zu wehren. Wenn sie jetzt angegriffen würden, wären sie dem Tod geweiht.
Sie taumeln einfach nur weiter, gedankenlos und lediglich darauf konzentriert, nicht zu stürzen und in die Richtung zu gehen, wo sie das Ende des Waldes vermuten, immer weiter, bis sie die Ebene und die Reichsstraße erreichen. Oder bis sich ihr unsichtbarer Verfolger dazu entschließt, erst einen von ihnen zu schnappen und dann den anderen.