Game Thread (IC)

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Idrasmine
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Re: Game Thread (IC)

Post by Idrasmine » Wed Jan 09, 2019 3:21 pm

Schwere Fußstapfen auf einer Treppe hinter der Wand ihres Zimmers wecken sie. Sie richtet sich auf und gibt einen kläglichen Ton von sich. Die Schritte trampeln draußen einen Korridor entlang.
Praiala legt sich wieder hin, schließt die Augen bis auf einen schmalen Spalt und hofft auf diese Weise jeden, der hereinschaut, vom Eintreten abhalten zu können.
Das ist aber nicht der Fall.
Zhandukan kommt herein und lässt die Tür weit offen stehen. Draußen im Schloss steckt ein langer eiserner Schlüssel. Der Junge hält irgendwas in der Hand. "Praiala! Wach auf! Du hast jetzt lange genug geschlafen. Du verpasst ja die Party. Sieh mal, sieh mal hier."
Plötzlich wird das Bett bei ihren Füßen niedergedrückt. Zhandukan hat sich daraufgesetzt, und Praiala rutscht gegen die Seite des Kastens. Sie hält sich den Kopf und schreit: "Vorsicht!" Der kraftvolle Klang ihrer Stimme überrascht sie.
"Tut mir leid", sagt Zhandukan reflexartig. "Tut mir echt leid."
"Ich glaube, ich habe einen Schädelbruch."
"Sieh mal." Zhandukan streckt eine Hand aus, in der er einige Kohlestiftzeichnungen hält. Sein Atem riecht schlecht, wie saure Milch oder Kotze. Praiala fährt zusammen und rückt ab von dem zappeligen besoffenen Kerl, dessen geschminktes Gesicht von seinem Schweiß verschmiert ist.
"Mir ist übel. Ich hab schlimme Kopfschmerzen. Ich glaube, ich habe einen Schädelbruch." Aber der andere hört überhaupt nicht zu.
Zhandukan bemüht sich, ihr direkt ins Gesicht zu sehen. "Baal Argrimm", schreit er und imitiert dabei den kreischenden Gesang der von draußen vor dem Turm hereindröhnt. Praiala zuckt zusammen. Der Lärm schmerzt in ihren Ohren und in ihrem Kopf. Sie versucht, die offene Tür hinter Zhandukan zu ignorieren, aber sie zieht sie magisch an. Ihre Gedanken sind ein einziges Durcheinander. Gibt es in der Nähe dieses Gebäudes, dieses Turmes, einen Ort? Wie weit kann sie in ihrem Zustand zu Fuß kommen? Ist es überhaupt vernünftig, mitten in der Nacht so nahe am Rand der Brache entlangzulaufen? Sind das da draußen überhaupt die Bäume der Dämonenbrache, in der sie sich verirrt hatte und wo ihre Gefährten umgekommen sind?
"Sieh doch!" Zhandukan wird wütend, weil Praiala seine Zeichnungen nicht anschaut. Praiala hebt sie von der Bettdecke auf.
Es sind Zeichnungen von Zhandukan, Baar und einem anderen Mann mit unglaublich langen weißen Haaren. Sie stellen sie in prunkvollen, weiten Magierroben, mit Flammenschwertern und Zauberstäben dar. Ihre Gesichter sind bemalt und zeigen wilde Grimassen. Einige Zeichnungen zeigen die drei Männer mitten im Schnee. Mit Raureif überzogene Bäume mit schwarzen kahlen Ästen bilden den skelettartigen Hintergrund. Auf den Bildern, die sie im Winter darstellen, halten sie auch Instrumente in den Händen. Baar spielt eine Gitarre, die in seinen großen langfingrigen Händen wie ein Banjo wirkt. Zhandukan hält Trommelstöcke in den Händen. Dass er Trommeln spielt, kommt Praiala logisch vor, denn das ist sicherlich die einzige musikalische Tätigkeit, zu der dieser hibbelige, unter Hochspannung stehende Junge in der Lage ist. Außerdem machen Trommeln ordentlich Krach.
Die dritte Person auf den Zeichnungen hat sie bisher noch nicht gesehen. Der Mann ist schlank, groß und auf eine jungenhafte Art gut aussehend, wenn man einmal von dem weiß geschminkten Gesicht absieht, das von gemalten schwarzen Rissen überzogen wird. Mit seinem vollen Haar wirkt er feminin, und irgendwie passt er nicht zu den anderen beiden Männern. Er strahlte eine Ruhe aus, die die anderen beiden nur nachäffen könnten. Ist er vielleicht losgegangen, um Hilfe zu holen?
Alle drei tragen Magierroben, hohe Stiefel und Nietengürtel. Sie scheinen Waffen, Tätowierungen und umgedrehte Boronsräder zu mögen. Es sind mehr als ein Dutzend Zeichnungen, alle aus der Hand eines erfahrenen Zeichners, auf denen immer das gleiche Trio zu sehen ist, und immer bieten sie alles Mögliche auf, um bedrohlich und böse, verrückt und herrisch auszusehen – soweit das eben möglich ist mit geschminkten Gesichtern und nackten Oberkörpern. Praiala kennt solche Darstellungen aus Werbeplakaten ähnlicher Musikgruppen. Viel weiß sie nicht über dieses Milieu, doch ist sie sich ziemlich sicher, dass Zhandukan ihr mangelndes Wissen bald aufstocken wird. Der Gedanke daran ist ihr mehr zuwider, als sie zunächst geglaubt hat.
Warum so eine Musik ausgerechnet in den mittelreichischen und zwergischen Wohlstandsstädten gemacht wird, ist ihr schleierhaft. Vielleicht ist es ein Protest gegen die gesellschaftliche Bevormundung oder gar eine Rebellion gegen ein Leben im Überfluss.
Unter jede der Zeichnungen ist der Name "Baal Argrimm" geschrieben.
Zhandukan lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und sieht Praiala mit einem breiten Grinsen auffordernd an, was bei seinem monströs geschminkten Gesicht einfach schauderhaft wirkt. "Na, was sagst du jetzt, Praiala aus Gareth?"
Praiala dreht eine der Zeichnungen um und sieht auf die Rückseite, auf der wieder die drei Männer abgebildet sind. Eine Liste der Musikstücke ist in zwergischer Schrift auf die linke Seite geschrieben, aber Praiala fehlt die Kraft, das Interesse und die Lust, die Liedtitel zu lesen. Sie ist gereizt, schlecht gelaunt und erschöpft, zuckt mit den Schultern und wirft die Blätter mit den Kohlezeichnungen zurück zu Zhandukan.
"Du hast ja keine Ahnung!" Zhandukan holt aus und verpasst Praiala eine Ohrfeige.
Praiala prallt zurück und stößt gegen das Kopfende des Bettes. Sie starren einander böse an. Zhandukan kneift die blauen Augen zu schmalen dunklen Schlitzen zusammen. Er sieht total irre aus. Praiala schluckt heftig. Dann grinst der geschminkte Idiot wieder, als würde er sich über Praialas Reaktion freuen.
Offenbar hat er Spaß daran, andere zu drangsalieren. So ein mieses kleines Arschloch! "Fass mich bloß nicht noch mal an!"
Zhandukan tut, als würde er sich furchtbar erschrecken: "Oh, was willst du mir denn antun, Praiala aus Gareth? Hm? Du ziehst also als Abenteurerin herum, hm? Für einen normalen Beruf hat’s wohl nicht gereicht? Da sollte man glauben du kommst viel herum, und trotzdem kennst du die Musik der finstersten Musiker Aventuriens nicht! Das muss ja eine totale Schwuchtelabenteuergruppe sein. Ihr hört wohl nur Musik für Schlappschwänze. " Er lacht laut auf, begeistert von seinen eigenen Worten.
Praiala überlegt, ob sie ihm ins Gesicht treten sollte, mitten hinein in seine dreckige Fresse mit den verfaulten Zähnen. Aber das irritierende Pochen in ihrem Schädel belehrt sie eines Besseren. Dies ist wahrscheinlich nicht der richtige Moment für eine handfeste Auseinandersetzung. Aber sie freut sich darüber, dass sie wieder diese Wut in sich spürt. Sie hat allmählich genug von diesem ganzen Unfug. "Unser Interesse ist nicht so groß, was solchen Scheißkram von bescheuerten Dämonenanbetern betrifft."
Zhandukan hört auf zu lachen. Setzt sich aufrecht hin. Er scheint wie ausgewechselt. Er lässt Praiala nicht aus den Augen, während er sich langsam vom Bett erhebt. Unter seiner weißen Schminke scheint sich sein Gesicht vor Zorn gerötet zu haben. Offensichtlich hat Praiala ihn so wütend gemacht, dass er kaum noch ruhig atmen kann. Als er endlich wieder etwas sagen kann, klingt seine Stimme tief und böse: "Dämonen? Dämonen? Was glaubst du denn? Hm? Dass wir Dämonen anbeten? Du hast ja überhaupt keine Ahnung! Du benutzt das Wort Dämon nur, weil du nichts davon verstehst. Aber es ist Calynaria, der wir unsere Ehrerbietung zollen. Es ist immer Calynaria gewesen."
Er ballt beide Hände zu Fäusten, schliesst die Augen und stößt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: "Da siehst du, wie die Zwölfe uns vergiften! Wir beten eine andere Göttin an und man nennt uns Dämonenanbeter! Aber es ist Calynaria, die große Göttin des Wandels, deren Kraft in unseren Adern fließt. Was die Zwölfe sagen, ist nach unserer Religion das Böse. Wir sind Magier. Wir sind mächtig. Wir kennen kein Mitleid!"
"Gut, okay." Mehr fällt Praiala dazu nicht ein. Ihr ganzer Körper steht unter Spannung. Sie sieht sich suchend nach dem hölzernen Löffel um.
Und dann bricht es aus Zhandukan hervor, und er redet so schnell, dass Praiala nur Teile von dem verstehen kann, was der betrunkene junge Mann ihr entgegenschleudert. Es würde alles nur lächerlich klingen, wenn ihre Gefährten nicht in der Dämonenbrache ums Leben gekommen wären. "Wir haben kein Mitleid mit deinen Freunden. Sie waren schwach, und deshalb sind sie gestorben. Und das ist auch schon alles. Die alten Götter verlangen Blutopfer! Sie sind … wie sagt ihr noch?" Er hällt inne, grinst höhnisch und sucht nach dem richtigen Wort. "Unbarmherzig! Ja, genau, das ist es. Sie sind unbarmherzig!"
Praiala steht ganz langsam vom Bett auf. Zhandukan ist labil, er wird hysterisch, er ist ein besoffener Irrer, sein ganzer Körper bebt.
Zhandukan dreht sich um und starrt Praiala aus seinen blauen Augen an, die kalt in dem grässlich geschminkten Gesicht leuchten. "Wir folgen Calynaria. Sie ist unsere Führerin. Sie bestimmt unser Leben. Ihr Blut fließt in unseren Adern. Du hast keine Ahnung, um was es hier geht. Du hast keine Ahnung, was hier lebt. Du würdest es auch nicht glauben."
"Du wärst bestimmt überrascht, wenn du hören würdest, was ich alles glaube. Aber jetzt beruhige dich mal, okay?"
Zhandukan kann sich nicht beruhigen. "Wenn unser Blut uns befiehlt, einen Tempel abzubrennen, dann tun wir es. Wenn unser Blut sagt, wir sollen eine Schwuchtel töten … ein … einen Büttel... einen Bauern, dann tun wir es! Unser Blut sagt, kommt nach Hause. Ihr seid bereit für die Alten im Wald. Die Göttin die… von … von unserem Volk. Kommt nach Hause. Ihr seid bereit, denn ihr habt bewiesen, dass ihr wahre Magier seid! Wilde Menschen, die alles wagen, bis der Weltenbrand, das Ende der Welt, kommt. Es geht nicht um einen beschissenen Dämonen. Das ist alles Zwölfgötzen-Scheißkram! Zu uns sprechen Götter, die viel älter sind." Zhandukan umfasst den Griff des Dolches in seinem Gürtel.
Praiala hebt beruhigend beide Hände. "Klar. Ich hab’s jetzt verstanden. Aber ich bin müde. Ich habe Schmerzen. Bitte. Beruhige dich ein bisschen. Bitte."
Aber Zhandukan redet weiter und fuchtelt aufgeregt mit den Händen. Seine Augen treten aus den Höhlen, die Schminke auf seinem Gesicht bekommt immer mehr Risse. "Wir sind Magier. Und wir erheben uns jetzt. Sie spricht zu uns durch unser Blut und durch die Erde des Waldes. Das ist das Gleiche wie bei den Hexen. Satuaria ist mit ihnen. Sogar die Praioskirche weiß das." Er ist völlig aufgebracht, sein jugendliches Gesicht verzerrt von dem Fanatismus, mit dem er seine irrwitzige Theorie vertritt. Er zieht das Messer aus dem Gürtel. Praiala spürt, wie ihre Beine kraftlos werden. Sie bewegt ihre nackten Füße, damit sie wenigstens ungefähr spürt, wo sie sind.
"Wir tun etwas, das bisher noch niemand getan hat. In der ganzen Geschichte nicht."
Zhandukan hebt die gebogene Stahlklinge und schwenkt sie durch die Luft und stößt damit in Richtung des kleinen Fensters und gibt knurrende Laute von sich. "Wir scheißen auf den Altar der Zwölfe. Das ist für uns kein Problem. Wir töten solche Praiostagsschulschnepfen, wie du eine bist! Das ist kein Problem. Aber es ist nicht neu. Es macht zwar irre Spaß, das kann ich dir sagen, aber es ist nicht … nicht … Scheiße! Mir fehlen die richtigen Worte. Originell! Darum geht es. Es ist nicht originell. Aber wir werden die ersten Führer eines Magier-Kultes sein, die eine echte alte Göttin präsentieren. Etwas, das man mit eigenen Augen gesehen haben muss. Und das du sehr bald wiedersehen wirst. Wir haben uns darauf vorbereitet, eine Göttin zu treffen. Und du solltest besser das Gleiche tun, meine Freundin."
Praiala weicht ein Stück vor dem herumfuchtelnden Jungen zurück, aber nach wenigen Schritten schon stößt sie mit dem Rücken gegen die Ecke des Schranks.
Zhandukan hat Schwierigkeiten, sie zu fixieren. "In diesem Wald lebt eine echte Göttin! Nicht irgendein beschissener zwölfgöttlicher Heiliger. Oder ein beknackter Dämon. Das hier ist ein heiliger Ort. Hier hat es wirklich eine Auferstehung gegeben. Und Baal Argrimm ist die Gruppe, die für die Göttin die Musik macht."
Als die Spitze des Messers sich nur noch ungefähr zwanzig Zentimeter vor ihrem Gesicht befindet, greift Praiala nach dem Krug hinter sich, holt weit aus und schmettert das schwere hölzerne Gefäß direkt gegen Zhandukan’s Schädel.
Ganz kurz huscht über das Gesicht des Jungen ein Ausdruck völliger Überraschung. Gleichzeitig hallt ein grässliches Geräusch durch den Raum, als würde eine leere Kokosnuss geknackt werden. Zhandukan lässt das Messer fallen, taumelt zwei Schritte zurück und schließt die Augen. Auf einmal sieht er aus wie ein kleines Kind, das gleich in Tränen ausbricht.
Praiala holt erneut aus und schlägt den Krug zum zweiten Mal gegen den Kopf ihres Gegners. Er zerbricht nicht. Aber er gibt ein dumpfes Geräusch von sich und prallt vom Schädel ab. Zhandukan fällt zur Seite und geht in die Knie. Praiala hebt den Krug zum dritten Mal.
Aber bevor sie wieder zuschlagen kann, bewegt sich etwas Wendiges und Nacktes blitzschnell durch das Zimmer. Sie dreht sich danach um und schnappt nach Luft.
Die irrwitzig verzerrte Fratze der Häsin stürzt so schnell auf sie zu, dass ihr der Atem wegbleibt. Zwei Fäuste schlagen ihr ins Gesicht. Mindestens dreimal, bevor sie den Krug fallen lässt und es ihr gelingt, die Handgelenke des Mädchens zu packen. Die Häsin stampft auf und tritt nach ihr. Sie taumeln zur Seite wie ein groteskes betrunkenes Paar, das einen aberwitzigen Tanz vollführt.
Praiala schreit laut auf, als ihr die Fingernägel des Mädchens über ihre Wangen kratzen. Es fühlt sich an, als hätte sie ihr die Augen ausgekratzt. Eine heiße salzige Flüssigkeit verzerrt ihren Blick. Oder ist das Blut?
Es gibt eine längere Pause, in der nichts weiter geschieht. Das Einzige, was sie wahrnimmt, sind die Umrisse der Häsin, die langsam vor ihren Augen verschwimmen. Und dann schießt eine kleine Faust nach vorn und trifft genau die offene Wunde an ihrer Stirn.

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Re: Game Thread (IC)

Post by Idrasmine » Thu Jan 10, 2019 10:15 am

Praiala kommt auf dem schmutzigen Fußboden wieder zu sich und fragt sich, wo sie ist. Sie sieht auf, dorthin, wo eine aufgebracht kreischende Stimme voller Wut und Verzweiflung auf sie einschreit.
Sie sieht den großen Mann namens Baar, der die Häsin gegen seine Brust presst. Er hält sie zurück. Damit sie sich nicht auf sie stürzt.
Zhandukan kriecht nicht weit entfernt von ihr auf allen vieren auf die Tür zu und stöhnt vor sich hin.
Das Mädchen kreischt weiter wie von Sinnen. In ihrem Kopf klingt es, als würde Glas zerspringen. Praiala schmeckt Blut in ihrem Mund. Ihr Kopf ist kalt und nass, weil die Wunde wieder aufgeplatzt ist. Sie betastet ihr Gesicht. Dann hält sie die Hände vor ihre kraftlos blinzelnden Augen. Sie sind knallrot.
Nichts kann das Mädchen besänftigen, sie schreit weiter und tritt mit ihren kleinen Füßen in ihre Richtung. Bis Baar sie hochhebt und zur Tür trägt. "Ich will sie aufschlitzen", ruft sie auf Garethi und wendet Baar ihr wutverzerrtes Gesicht zu. "Lass mich, Baar! Ich will sie aufschlitzen!"
"Nein! Dann bleibt ja nichts von ihr übrig. Denk doch mal nach. Denk mal nach", wiederholt er mit seinem fremdartigen Akzent. "Denk doch mal nach."
Zhandukan knickt ein und stützt sich auf seine Ellbogen, sein Gesicht fällt auf den Boden. Das schwarze Haar breitet sich um seinen Kopf aus. Er fängt an rhythmisch zu stöhnen, es klingt, als wimmere ein Kind vor sich hin. Praiala kann seine Rippen erkennen und starrt auf die Wirbelknochen, die sich unter der blassen Haut abzeichnen. Das sind ja Kinder, denkt sie. Kinder. Völlig verstört, geschädigt.
Das um sich schlagende Mädchen wird müde. Sie zappelt nur noch schwach, entspannt sich dann und fängt an zu schluchzen. "Ich will aber, ich will aber", sagt sie.
"Jetzt noch nicht", sagt Baar und hält sie ganz fest.

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Re: Game Thread (IC)

Post by Idrasmine » Thu Jan 10, 2019 11:28 am

Wenn die Häsin das Messer von Zhandukan genommen hätte, wäre sie jetzt tot. Sie würde auf dem schmutzigen Zimmerboden liegen, langsam verbluten, und keiner würde ihr helfen. Ein Bild zuckt durch ihr Gehirn. Sie sieht ihre eigene Leiche vor sich, aufgeschlitzt und zu einer einzigen klaffenden Wunde ausgebreitet. Sie schließt die Augen und versucht, diese grauenerregende Vision aus ihrem Kopf zu bannen.
Unten geht der Streit weiter. Im Erdgeschoss. Gelegentlich wird Baars Stimme lauter, wenn es notwendig ist, das Schreien des Mädchens zu übertönen. Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile ist die Stimme von Zhandukan überhaupt nicht zu hören.
Ein Stuhl wird lautstark über den Fußboden gerückt, dann fällt er um. Dann wird Ton zerschlagen. Oben in ihrem kleinen Zimmer zuckt Praiala schmerzhaft zusammen.
Sie legt den Unterarm über die Stirn, um die Blutung zu stillen. Ihr Kopf ist heiß und fühlt sich völlig schwerelos an, hinter den Augen spürt sie eine Schwellung. Die neue Wunde schmerzt nicht so sehr. Aber es wird bestimmt wieder anfangen. Sehr bald. Die Endorphine werden nur eine kurze Zeit ihre Wirkung entfalten. Die Schmerzlinderung ist zeitlich begrenzt. Das war immer so.
Dass sie sich dem Kampf gestellt hat, macht sie froh. Was natürlich unsinnig ist, denn er hat ihre Situation nur verschlechtert. Die Sicherheitsvorkehrungen werden verstärkt werden. Sie hat sich unbeliebt gemacht, und ihre Gegner werden den Gesichtsverlust nicht so rasch vergessen, sie werden auf Rache sinnen. Das ist unvermeidlich, vorhersehbar und gleichzeitig auch kindisch, aber zweifellos nur allzu menschlich. So funktioniert die Welt nun einmal.
Jetzt sind die Regeln des grausamen Spiels zwischen ihr und ihnen deutlich geworden. Jede neue Zusammenkunft von Menschen führt zu einer hierarchischen Ordnung. In der, die hier herrscht, ist sie auf dem letzten Platz der Rangliste. Sie ist nur eine machtlose Zuschauerin, sie den debilen Sadismus dieser jungen Leute hinnehmen muss. Das ist ihre Rolle.
"Wie? Wie?"
Das Mädchen im Erdgeschoss gibt ein lautes Stöhnen von sich, als hätte sie sich jetzt ausgeweint und genug herumgeschrien und wäre dabei sich zu beruhigen. Baars tiefe Stimme ertönt. Von Zhandukan ist noch immer nichts zu hören.
Praiala sitzt auf ihrem Bettkasten und hat Durst. Seltsamerweise hofft sie, dass sie Zhandukan nicht zu sehr verletzt hat. Sie hat keine Freude an dem Leid, das sie selbst verursacht hat.
Immerhin wird sie allmählich wieder wach. Es ist gut, dass sie endlich wieder den Drang verspürt, etwas zu unternehmen. Das Heilen ihrer Wunde ist jetzt erst einmal zweitrangig. Sie muss den Schmerz niederkämpfen und versuchen, hier so schnell wie möglich wegzukommen.
Sie ist der Gefahr entronnen, jedenfalls der unmittelbaren Lebensgefahr, aber nur, um in einem stinkenden Bett zu landen, das in einem stickigen Zimmer eines uralten Turmes steht, von dem sie noch nicht einmal weiß, in welcher Gegend er eigentlich steht. Um sich halbwegs sicher zu fühlen, muss man aber wissen, wo ungefähr man sich befindet, auch um sich darüber klar zu werden, wo die anderen Menschen eigentlich sind. Seit sie über den wackeligen Holzsteg gegangen ist, hat Praiala nicht mehr gewusst, wo sie sich befindet. "Ganz schön mutig eigentlich, Herr Praios. Mein Leben, meine Seele. Ich lege sie in deine Hand. Ich vertraue dir. Du wirst mich sicher durch all dies geleiten, ich weiß es."

Aber was genau tun diese Jugendlichen hier eigentlich? Wenn du jemanden bei dir aufgenommen hast, wenn du ihm etwas zu essen gibst, ihm einen Platz unter deinem Dach anbietest, dich aber andererseits nicht um die womöglich schwere Kopfverletzung kümmerst, die dein Gast hat, dann ist das eigenartig. Denn Garetien ist doch ein modernes Land, wo es Heiler gibt, Therbûniterkloster und Mietkutscher, wenn erforderlich. In diesem Fall aber ... Praiala fährt sich mit den schmutzigen Händen über das feuchte Gesicht. Sie befindet sich in einer verdammt unangenehmen Situation. Das Ganze ist sehr eigenartig und absurd.
Sie wollen sie im Unklaren lassen. Zhandukan hat es vermieden, ihre Fragen zu beantworten. Von ihren Gastgebern wird sie keine nützlichen Informationen bekommen, das ist ihr inzwischen klar geworden. Sie wird hier gegen ihren Willen festgehalten. Ihr wichtigstes Ziel muss sein, hier wegzukommen. Denn diese Masken, die Musik, das Geschrei und das Feuer dort unten auf der Wiese, das macht alles überhaupt keinen guten Eindruck, im Gegenteil.
Sie versucht, nicht an das schreckliche Ding im Wald zu denken, dieses undenkbare Etwas, das ihre Gefährten getötet hat. Bis jetzt ist sie zu krank und verletzt und müde gewesen, um einen Gedanken daran zu verschwenden. Aber so wie es aussieht, ist auch diese Geschichte noch nicht vorbei. Da ist sie sich leider nur allzu sicher.
Die jungen Leute sind wegen diesem Ding hierhergekommen. "Baal Argrimm" nennen sie sich: die Zwergische Bezeichnung für Blutrausch. Und sie verschleiern ihre eigene Identität, indem sie sich saublöde dämonische Namen geben. Und falls an Zhandukans Prahlereien in Bezug auf das, was sie hier vorhaben, etwas dran ist, dann ist eine Rettung für sie in naher Zukunft nicht in Sicht.
Ihre Gedanken wandern zu der seltsamen alten Frau. Was hat es mit der wohl auf sich?
Langsame schwere Schritte kommen die Treppe herauf. Und sie hört mit diesen unangenehmen Grübeleien auf und schiebt sie beiseite.
Sie spannt sich an. Sucht nach einer möglichen Waffe. Der Krug liegt immer noch auf dem Boden und scheint erstaunlicherweise heil geblieben zu sein. Ebenso der Eimer. Sie bückt sich und hebt den Krug auf, umfasst den abgenutzten Henkel. Sie erinnert sich an Zhandukans gebogene Messerklinge und erschauert. Es scheint ihr unmöglich, dieses Zittern loszuwerden, und auch das Zähneklappern ist kaum zu bändigen.
"Praiala? Hier ist Baar." Er macht keine Anstalten, ins Zimmer zu treten.
Die sind jetzt auf der Hut vor mir. Das ist gut. Sie sind ängstlich, sind eben doch nur Kinder. Zhandukan ist nur ein Großschwätzer, ein Angeber. Die haben garantiert noch nie jemanden umgebracht.
Praiala bleibt wenige Meter vor der Tür stehen, so dass sie genug Platz hat, mit dem Krug auszuholen. "Ja?"
"Gut, du hörst mir also zu."
"Auf jeden Fall."
"Das freut mich sehr, Praiala. Weil du mir jetzt nämlich sehr genau zuhören solltest. Verstanden?"
"Verstanden."
"Du hast einen schweren Fehler gemacht."
"Ach ja?"
"Ja, meine Liebe, allerdings."
"Er ist mit dem Messer auf mich losgegangen. Was sollte ich da denn machen?"
"Wenn er dich hätte töten wollen, dann wärst du längst tot. Verstanden?"
"Eigentlich nicht."
Baar seufzt. "Zhandukan hat schon Leute umgebracht. Für ihn ist Mord keine große Sache. Ist das jetzt klar?"
Praiala spürt, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Die letzte Körperwärme scheint ihren Körper zu verlassen.
Sie zwingt sich dazu, sich nicht allzu deutlich vorzustellen, was diese Aussage von Baar bedeutet, genau wie sie sich dazu gezwungen hatte, die ausgeweidete Leiche im Baum aus ihrem Gedächtnis zu bannen. Sie muss alles tun, um den Verstand zu behalten, sonst ist sie verloren. "Wenn er versucht, mir Angst einzujagen, dann gefällt mir das nicht, Baar. Verstehst du?"
"Er wollte dich doch gar nicht verletzen. Er mag dich. Er freut sich, dass du hier bei uns bist. Er langweilt sich mit mir und Hazitai. Weißt du, Hazitai und ich, wir sind zusammen, und Zhandukan ist ein bisschen außen vor."
"Aha."
"Aber jetzt hast du keinen Freund mehr hier, Praiala. Du hast es dir mit ihm verdorben."
"Er war nicht mein Freund, Baar. Und ich bin kein Dummkopf. "
Baar bricht in schallendes Gelächter aus. "Das habe ich auch nie behauptet, Praiala. Du willst überleben. Du kämpfst. Du bist nicht schwach. Das bewundere ich. Du bist was Besonderes. Deshalb hast du überlebt, als deine Freunde ums Leben kamen. Ist doch klar, oder? Zhandukan war nur so dumm, dich einen Moment aus den Augen zu lassen, das ist alles. Aber er hat ganz bestimmt daraus gelernt. Ich würde dir empfehlen, ihm nicht noch einmal so zu kommen, denn dann schalte ich mich ein. Dann sorge ich für Ruhe, verstanden?"
Praiala sagt gar nichts. Sie versucht verzweifelt, jegliche Sympathie für diesen jungen Mann zu unterdrücken.
"Hast du verstanden, was ich gesagte habe, Praiala?"
"Ja!"
"Gut. Aber bitte schrei nicht so, du bist unser Gast, okay?"
"Okay."
"Ich danke dir."
"Was ist mit meinen Weggefährten, Baar? Habt ihr sie umgebracht? "
"Nein. Ich kann dir nicht genau erklären, was mit ihnen passiert ist, aber wir werden es bald herausfinden …"
"Was meinst du damit?"
"Praiala! Ich stelle hier die Fragen! Also hör mir bitte zu. Du musst jetzt sehr vorsichtig sein und … wie sagt man? Sogar im Schlaf wachsam sein. Weil jemand in diesem Turm ist, und zwar gar nicht weit von deinem Bett entfernt, der dich sehr gerne töten möchte."
"Dann sag Zhandukan doch bitte, dass es mir leidtut. Ich habe ihn nur geschlagen, weil ich Angst hatte, dass er mich verletzt. Und ich habe einfach keine Lust mehr, mich verletzen zu lassen, Baar. Könnt ihr das nicht verstehen? Meine Gefährten wurden umgebracht und ich will … ich will einfach nur, dass das hier aufhört."
"Das verstehe ich sehr gut, Praiala. Es wird auch bald aufhören."
Diese Aussage lässt jäh eine irre Hoffnung in Praiala aufkeimen, bis ihr schlagartig klar wird, dass Baar vielleicht ein ganz anderes Ende meint.
"Zhandukan ist wirklich nicht dein Problem", erklärt der riesige Kerl mit der tiefen Stimme hinter der Tür. "Er ist wütend auf dich, ja, klar. Er hatte gehofft, dass er eine nette Freundin haben würde, so lange du hier wartest."
"Auf was warte ich denn?"
"Ich bin noch nicht fertig, Praiala …"
"Auf was, Baar? Auf was warte ich hier wohl? Hm? Auf die Stadtwache? Die Praioskirche? Weil die ganz bestimmt bald hier sein werden?"
"Das glaube ich nicht. Du solltest dich nicht irgendwelchen falschen Hoffnungen hingeben, meine Liebe. Du bist viel zu wichtig für uns, als dass wir dich der Stadtwache übergeben möchten. Das sind sowieso die Letzten, die wir hier haben wollen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie uns sehr gern finden würden." Baar lacht vor sich hin. Es ist ein hinterlistiges, lautes Lachen. "Ich werde dir bald mehr davon erzählen, meine Liebe. Alles zu seiner Zeit. Die Party gestern Abend fand aus einem ganz bestimmten Grund statt. Das wird dir sehr bald klar werden. Du musst nur noch etwas Geduld haben, Praiala. Und bis es so weit ist, musst du beherzigen, was ich dir über dein Benehmen als Gast in diesem Turm gesagt habe."
"Ich will’s versuchen, Baar. Und ich werde mich sehr anstrengen, um herauszufinden, warum ich hier gegen meinen Willen festgehalten werde."
"Du hast einen sehr starken Willen, Praiala. Aber ich will dir trotzdem mal das Problem schildern, das du jetzt hast, okay?"
"Ja, okay. Sag schon, sag es mir."
"Wenn ich sage, dass du ein ziemlich großes Problem hast in diesem Turm, dann ist das weder gelogen noch übertrieben. Aber ich meine damit nicht Zhandukan. Er hat jetzt ein paar Prellungen am Kopf, aber er will dich deswegen nicht umbringen. Dein Problem ist Hazitai, Praiala."
"Dann halt diese Verrückte doch einfach fern von mir, okay. Wie wär’s damit?"
"Ich werde mein Bestes tun. Aber ich muss auch ab und zu mal schlafen. Und sie ist in manchen Dingen sehr engagiert."
"Das verstehe ich nicht."
"Sie liebt es, zuzustechen. Und reinzuschneiden. Sie ist ein bisschen verrückt im Kopf. Einmal hatten wir diesen Typen bei uns, und sie… Na ja, versuche dir mal einen Mann vorzustellen, der weglaufen will, aber keine Zehen mehr an den Füßen hat. Das war wirklich ein sehr spaßiger Anblick, das kann ich dir sagen. Und sie hat nicht bei den Zehen aufgehört. Er passte anschließend in einen einzigen … Koffer. Weißt du, so einen, den man als Handgepäck mit in die Kutsche nehmen kann."
Praiala denkt, dass sie sich jeden Moment übergeben muss. Sie muss sich hinsetzen, ihre Kräfte sammeln.
"Ich glaube, du verstehst mich jetzt, Praiala. Deshalb möchte ich dich um einen kleinen Gefallen bitten. Tu, was wir dir sagen. Das bedeutet, keine Kämpfe mehr, kein gewaltsamer Widerstand. Ich lasse dich jetzt allein, damit du ein bisschen darüber nachdenken kannst." Seine Schritte entfernen sich durch den Flur.
Praiala geht zur Tür und ruft hinter ihm her: "Ich brauche was zu trinken, Baar. Wasser."
Die lauten Schritte kommen wieder zurück und halten hinter der Tür. "Ich bring dir was."
"Und heißes Wasser. Und einen Verband."
"Das geht nicht."
"Ein antiseptisches Wundpulver. Hochprozentigen Alkohol."
"Geht nicht."
"Einen Heiltrank, irgendwas. Bitte."
"Geht nicht."
"Weißt du was, ruf doch am besten einen Mietkutschenfahrer aus der Südstadt her. Jetzt, sofort."
"Geht nicht", erwidert Baar ohne den leisesten ironischen Unterton.

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Re: Game Thread (IC)

Post by Idrasmine » Thu Jan 10, 2019 12:02 pm

Praiala zuckt jedes Mal zusammen, wenn ihr scheinbar umherrutschendes, geschwollenes Gehirn schmerzhaft gegen eine Seite ihres Schädels gedrückt wird, schiebt sich aber trotzdem ganz langsam Richtung Bettkante. Vorsichtig lässt sie ihre Beine über den Rand gleiten und richtet sich auf. Sogar wenn sie ihren Kopf mit beiden Händen stützt, hat sie das Gefühl, er wäre aus dem Lot geraten, und fühlt sich elend wie eine Seekranke.
Sie trinkt noch mehr von dem abgestandenen Wasser, direkt aus dem Krug. Es läuft an den Mundwinkeln herab und tropft auf ihre nackte Brust. Abgesehen von ihrer durchnässten Unterwäsche haben sie ihr alle Kleider weggenommen. Sie fühlt sich krank und hat Angst, den Grund dafür herauszufinden. Aber es gibt keine Heilmittel hier, und es ist jetzt sowieso klar, dass sie sie niemals weglassen werden. Das sind die neuen Tatsachen, denen sie sich stellen muss. Das sind die Regeln, die nun ihr Leben bestimmen. Oder das, was noch davon übrig ist.
Ein heftiger Anfall von Selbstmitleid drängt aus ihrem Herz nach draußen. Es durchzuckt sie derart, dass sie auf die Knie fällt, sich nach vorn beugt und zu heulen anfängt.
Das grauenhaft enge Gefühl in ihrem Hals entspringt ihrer tief empfundenen Einsamkeit, Traurigkeit oder Verzweiflung, vielleicht auch allem zusammen. Es ist so schlimm, dass sie denkt, alles, sogar der Tod, sei besser, als dieses entsetzliche überwältigende Gefühl.
Ihr Kopf tut so furchtbar weh. Nach nichts sehnt sie sich so sehr, wie nach dem Ende dieser bohrenden Schmerzen. Für ein wenig schmerzlindernde Tarnelensalbe würde sie alles geben. Ihr ganzer Rücken, überhaupt alles bis hinunter zu den Waden, ist zerstochen und zerkratzt von den Dornen im Wald, und jede einzelne dieser Wunden verursacht einen eigenen kleinen Schmerz, und zusammen sind es Tausende von wunden Stellen, die ihr Leid verstärken. Sogar zwischen ihren Fingern sind Schnitte, und sie kann sich nicht mal erinnern, woher sie stammen.
Sie schaut die schmutzige geschwollene Haut ihrer Hände und Unterarme an. Dass sie tatsächlich geglaubt hatte, sie sei hier in Sicherheit, gerettet! Ihr Brustkorb verengt sich, und über ihre Haut kriecht ein eiskalter Schauer, der ihr nur allzu bekannt vorkommt.
Sie liegt auf dem Holzboden, rollt sich zusammen, hält den malträtierten Kopf mit beiden Händen fest und weint leise, bis sie so erschöpft ist, dass sie keine Tränen mehr vergießen kann.

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Re: Game Thread (IC)

Post by Idrasmine » Thu Jan 10, 2019 2:25 pm

Nachdem das Schluchzen von Hazitai im Erdgeschoss endlich aufgehört hat, legt Praiala sich auf die muffige Bettdecke und horcht auf die Geräusche der Nacht. Die Kruste von getrocknetem Blut auf ihrem Gesicht bricht gelegentlich auf. In ihrem Zimmer gibt es kein Licht. Keine Öllampe. Keine Kerze. Als es also draußen dunkel wurde, dann auch hier in ihrem Raum und überall sonst im Turm. Das Rauschen der Bäume vor dem Turm wird gelegentlich heftiger und klingt wie Wellen, die an den Strand rollen. Der Wind hat seit ihrer Ankunft in Aveshain noch nicht so stark geweht.
Sie horcht auf dieses Rauschen, bis sie erneut das Geräusch von Schritten vernimmt, die auf der Treppe nach oben steigen. Sie vermutet, dass die drei Jugendlichen und die alte Frau nun kommen, um sie umzubringen. Sie verkrampft sich und hält die Luft an.
Jemand betritt lautstark einen Raum am anderen Ende des Korridors – sie glaubt die Schritte von zwei verschiedenen Leuten ausmachen zu können –, und dann wird hinter ihnen die Tür geschlossen. Ein weiteres Paar Füße schlurft zur Treppe und trampelt wieder nach unten, wo es irgendwohin verschwindet.
Praiala holt tief Luft und entspannt sich wieder. Ihre Entführer gehen offenbar zu Bett. Zwei schlafen anscheinend hier oben im gleichen Stockwerk wie sie. Sie hat das Gefühl, dass es ein recht großes Gebäude ist. Es knarrt und quietscht überall wie ein altes Segelschiff, und sie kann das Ächzen der Balken und Verstrebungen hören. Manchmal glaubt sie sogar, der Boden unter ihren Füßen würde sich bewegen. Das alles macht den Eindruck, als wäre der Turm ziemlich baufällig.
Ab und zu fällt sie trotz der Kopfschmerzen und der Übelkeit vor Erschöpfung in einen tiefen Schlaf.
Dann wacht sie plötzlich aus einem Traum auf, in dem sie sich völlig orientierungslos immer nur um sich selbst gedreht hatte, während sie in einen weißlichen Himmel starrte. Etwas hatte sie aus dem Schlaf geholt. Geräusche. Irgendwo über ihrem Zimmer.
Es muss schon nach Mitternacht sein. Draußen ist es vollkommen dunkel, der Himmel, den sie durch ihr kleines Fenster sehen kann, zeigt noch keine Anzeichen von Dämmerung.
Aber die Dielen in dem Zimmer direkt über ihr knarren. Und sie hört ein leises Pochen. Es klingt nicht nach dem kratzenden Geräusch, das Vögel oder Mäuse von sich geben, eher nach etwas mit wesentlich größeren Körpermaßen, das sich dort bewegt. Vielleicht sind es auch mehrere.
Ja, sie ist sich jetzt sicher, dass es auf jeden Fall größer ist als eine Katze oder ein Hund. Es läuft hin und her und scheint herumzutasten. Die Art dieser Geräusche ruft aus unerfindlichen Gründen in ihrem Kopf das Bild einer Reihe von kleinen Kindern hervor, die blind umherstolpern und sich an den Wänden eines geschlossenen Raums entlangtasten, auf der Suche nach einem Ausweg. Sie verbannt das Bild aus ihren Gedanken. Es tut ihr gar nicht gut, sich hier im Dunkeln derartige Dinge vorzustellen.
Hastig stemmt sie sich aus dem Bett. Der Fußboden gibt ein lautes und anhaltendes Knarren von sich. Über ihr wird es schlagartig ruhig. Sie bleibt stehen, hält den Atem an und spitzt einige Sekunden lang die Ohren. Dann geht sie ganz vorsichtig über die Dielen. Die Ruhe der Nacht verstärkt das schwache Geräusch ihrer Fußsohlen.
Sie flucht lautlos. Der Turm horcht. Die Dunkelheit verfolgt sie.
Über ihr bewegt sich nun nichts mehr, aber sie spürt, dass dort irgendetwas ist und sehr genau auf ihre Bewegungen achtet.
Sie bricht in Panik aus. Ringt nach Atem. Sie muss etwas unternehmen. Etwas tun. Jetzt sofort.
Beim Fenster angekommen, lässt sie ihre Hände rasch über den Rahmen gleiten, dann über die herausstehenden Metallstifte. Sind das abgesägte Gitterstäbe? Wenn sie hinausschaut, kann sie nichts erkennen. Die Sterne und der Mond werden von Wolken verdeckt. Das Fenster ist eindeutig zu klein, um hindurchzuklettern. Ihre Schultern würden nicht durchpassen. Und wenn sie es versuchte, würde sie sich zweifellos an den aus dem Mauerwerk herausstehenden Metallstiften verletzen. Sie erschauert. Bitte, nicht noch mehr Schmerzen.
Sie prüft den Boden vor ihr, bevor sie ihr Gewicht darauf verlagert, und bewegt sich im Zickzack durch den Raum bis hin zur Tür. Sie drückt sich dagegen, ertastet die Umrisse mit den Handflächen und dreht am Türknauf, in der Hoffnung einen Schwachpunkt zu entdecken, den sie sich für ihre Flucht zunutze machen könnte. Leider erfolglos. Es ist eine massive alte Tür. Sie tastet die breiten Angeln ab. Um diese Tür aus den Angeln zu heben oder aus dem Rahmen zu brechen, bräuchte sie ein Stemmeisen.
Auf Händen und Füßen kriecht sie wieder über den Boden. Sie tastet mit den Fingerspitzen die relativ breiten Spalten zwischen den Dielenbrettern ab. Am liebsten würde sie ihre Hände hindurchstecken auf der Suche nach einem Ansatzpunkt. Aber sie spürt nur einen kalten Luftzug und wirbelt trockenen Staub auf, das ist alles. Sie erkennt, dass der Boden genauso beschaffen ist wie die Tür: massiv und uralt. Sie kriecht herum, tastet alles ab, und ihre ohnehin schon schmutzigen Knie werden noch dreckiger. Sie beißt die Zähne zusammen und verflucht lautlos den ganzen Turm.
Als sie wieder steht, bewegt sie sich schlurfend an den Wänden entlang. Der Putz ist an einigen Stellen feucht, an anderen spürt sie den trockenen Staub der abblätternden Farbe. Sie fragt sich, ob es möglich wäre, sich an einer mürben Stelle durch die Wand zu arbeiten, wenn sie den Krug oder den Eimer zerbräche und mit einem spitzen Stück daran schabte. Ihre Überlegungen werden unterbrochen, weil sich über ihr etwas tut.
Stimmen.
Flüsternde Stimmen.
Rums, bums, rums: Es klingt, als würden sich kleine Körper dort bewegen.
Sie geht bis in die Mitte des Zimmers, bleibt am Fuß des Bettes stehen und hört, wie über ihr etwas ihren Bewegungen folgt. Tapsende kleine Füße gehen genau da hin, wo sie jetzt steht. Genau über ihr.
Praiala läuft leise zum Fenster. Die kleinen Füße folgen ihr.
"Hallo", sagt Praiala.
Stille.
Sie ruft erneut, diesmal lauter: "Hallo."
Keine Antwort.
"Könnt ihr mich hören?"
Niemand antwortet, aber sie ist sich ziemlich sicher, dass dort oben jemand ist, der ihre Stimme vernommen hat. Jetzt nämlich wird etwas anderes Kleines über den Boden dort oben geschoben oder schiebt sich selbst darüber. Es kann kaum größer als ein Kind sein, denn das schlurfende Geräusch ist so leicht und fein, als hätte diese Gestalt kaum Gewicht und würde fast schwerelos über die alten Dielen gleiten.
Jetzt ist wieder dieses Flüstern zu hören. Verschiedene dünne, zarte Stimmchen plappern durcheinander. Sie kann kein einzelnes Wort heraushören, aber es scheint so, als würden sie etwas fröhlicher klingen.
Nun kommt noch jemand anderes hinzu. Es klingt, als käme es aus einer Ecke des Zimmers und würde sich von dort über den Boden bewegen, bis hin zu der Stelle, wo sie am Fenster steht. Aber diese Gestalt, was immer es ist, bewegt sich ungeheuer langsam, als bedeute jeder einzelne Schritt eine ungeheure Anstrengung. Es ist auch ein anderes Geräusch, die Schritte klingen härter, hohler und hölzerner, als würde diese Person Schuhe mit beschlagenen Sohlen tragen oder Krücken benutzen. Auch scheint dieser Jemand sich sehr sorgfältig Schritt für Schritt voranzubewegen und nicht zu schlittern oder zu schlurfen, so wie es bei den anderen geklungen hat.
"Ich kann euch hören. Sprecht ihr Garethi?", ruft sie aus, ohne zu laut zu werden.
Das Flüstern wird stärker, dann ebbt es ab.
Stille.
Auf diese Weise erreicht sie gar nichts. Wen haben sie denn da oben untergebracht? Kinder? Sie denkt an das Waisenhaus der “heiligen” Celissa, in dessen Keller ein namenloser Opferaltar gefunden wurde, an Marek den Schlitzer, der in seiner Windmühle in der Brache die Kranken folterte. Erinnert sich an das, was sie über den Verlust an Willenskraft bei Gefangenen gelesen hat, die von degenerierten Mördern gefangen gehalten wurden. Sie denkt an die Opfer, die entführt worden waren, mit denen sie gespielt hatten, die sie erniedrigt, vergewaltigt und manchmal auch gegessen hatten. Diese Gedanken machen ihr so sehr zu schaffen, dass sie sich erst einmal hinsetzen muss.
Dann ballt sie die Fäuste und beißt die Zähne zusammen. Am liebsten würde sie laut losbrüllen, um gegen das Unmögliche, das Absurde und das absolut Unfaire an dieser Situation zu protestieren. Es gibt einfach keine Mittel sich auf den Wahnsinn der anderen vorzubereiten, der einen in jeder Sekunde dieses Lebens überfallen kann.
Sie merkt, dass sie den Atem angehalten oder bestenfalls nur ganz kurz geatmet hat, seit sie die Bewegungen über sich vernommen hat. Nun atmet sie die modrige Luft des Raums gierig ein. Und erschauert. Inzwischen ist es sehr kühl geworden. Ihre Füße sind starr vor Kälte. Sie fragt sich, ob sie womöglich schon blau angelaufen sind. Wieder wird sie wütend, weil man ihr ihre Kleider weggenommen hat. Vielleicht sind ihre Sachen ja in einem üblen Zustand, aber es könnte auch sein, dass sie sie aus kalter Berechnung ausgezogen haben.
Sie berührt die klaffende Wunde an ihrem Kopf. Es fühlt sich bestimmt schlimmer an, als es ist, beruhigt sie sich, ist aber gar nicht sicher, ob sie das glauben kann.
Sie bewegt sich langsam auf die vagen Umrisse ihres Bettes zu. Wenn sie sich ein bisschen ausgeruht und aufgewärmt hat, wird sie viel besser damit klarkommen, mit denen da oben. Morgen wird sie sich darum kümmern.
Der Gedanke daran macht ihr zu schaffen und raubt ihr die letzten Kräfte. Hätte sie sich doch bloß nicht dazu hinreißen lassen, Zhandukan zu schlagen. Jetzt sind sie natürlich auf der Hut. Aber sie muss unbedingt etwas unternehmen. Vielleicht sollte sie wirklich versuchen, sich einen Fluchtweg durch die Wand zu graben. Ja, genau. Erst wird sie schlafen und dann den Krug zerbrechen, indem sie den Eimer zu Hilfe nimmt, ganz leise natürlich, am besten unter dem Bettzeug. Dann wird sie zuerst den Putz abkratzen, während die Jugendlichen ihren Rausch ausschlafen und sich von ihrer wilden Party erholen. Sie werden sie doch sowieso umbringen. Dass sie die Mauer beschädigt, dürfte da ihr geringstes Problem sein.
Sie setzt sich aufs Bett. Starrt ins Nichts. Sie sowieso umbringen. Sie überlegt, wie sich das wohl anfühlt, wenn man stirbt. Wenn Golgari, der Seelenrabe kommt um sie über das Nirgendmeer zu tragen. Ob ihre Taten auf der Seelenwage Rethon schwer genug wiegen?

Über ihr ist es jetzt wieder ganz ruhig, aber sie fragt sich, ob die da oben jetzt womöglich ihren Gedanken lauschen.
Sie streckt sich auf dem Bett aus. Es stinkt wie ein Viehstall, aber immerhin ist es warm unter der Decke.

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Re: Game Thread (IC)

Post by Idrasmine » Fri Jan 11, 2019 1:20 pm

Sie steht am Fenster. Der Himmel wird vom blassen Licht des Monds erhellt. Er ist so groß und nimmt so viel Platz ein, dass man glauben könnte, er sei kurz davor, auf die Erde zu prallen. Vom Turm aus sieht man den Wald, der sich mit seinen zahllosen schwarzen Bäumen unendlich weit zu erstrecken scheint. Die Bäume stehen ganz ruhig da, aber der Wald ist nicht ruhig. Eigenartige Schreie sind in der Ferne zu hören. Sie kommen aus dem kalten lichtlosen Raum unterhalb des weiten Dachs der Äste, die wie kräftige Arme wirken, die sich zum Lob der nächtlichen Illumination feierlich ausbreiten. Die dunklen Blätter an den Spitzen der höchsten Bäume scheinen in dem kalten Licht wie vom Frost erstarrt. Ein wundersames Licht, das Praiala jedoch keinen Trost spendet. Auch wenn sie sich das wünscht.

Hinter ihr in ihrem Zimmer spricht jemand zu ihr mit einer dünnen hastigen Stimme. Eine kleine Person. Was sie sagt, versteht sie irgendwie, obwohl sie bisher in ihrem Leben noch nie von derartigen Dingen gehört hat. Aber es ist ihr nicht erlaubt sich umzudrehen.
Sie spürt das dringende Bedürfnis, nach unten zu gehen, auf diese weißliche Lichtung unterhalb ihres Fensters zu treten, diesen kleinen in den unendlichen Ozean der Bäume eingesetzten Raum, den flachen hellen Kreis, der wie eine völlig andere Welt wirkt, bedeckt von einer pelzartigen, kurzgeschorenen Fläche aus silbrig glänzendem Gras. Sie fühlt sich geradezu euphorisch bei diesem Anblick, erfüllt von einer verrückten Fröhlichkeit, aber sie weiß auch, dass es sehr schwierig sein wird, hinauszukommen aus diesem Kreis, der von aufrecht stehenden Steinen begrenzt wird, selbst wenn sie es wagt hinunterzugehen. Dort unten würde sie immer wieder im Kreis gehen, vor dem gähnenden Eingang einer dunklen steinigen Kammer, und dabei in den hellen Himmel schauen. Das hat sie vorher auch schon getan. Oder etwa nicht? Da ist sie sich gar nicht mehr so sicher.
Und in den Wipfeln tollen diese Gestalten herum. Es sind Kinder. Es sind Engel. Tränen schießen ihr in die Augen. Sie tanzen. Oder sie schleichen am Rand der Lichtung entlang. Vielleicht sind diese hüpfenden Bewegungen, die sie vollführen, bevor sie sich auf alle viere fallen lassen, auch eine Kombination aus Tanzen und Schleichen. Manchmal erheben sie sich auf die Hinterbeine und winken oder recken ihre dünnen weißen Ärmchen zum Himmel.
Es ist nicht leicht, diese kleinen weißen Figuren genauer zu betrachten, weil sie immer wieder ganz plötzlich mit ihren blassen Körpern im Schatten des Waldes verschwinden. Sie stehen niemals für längere Zeit still, huschen ständig umher. Aber je länger sie hinschaut, desto deutlicher sieht sie ihre rosafarbenen Augen und ihre biegsamen Schwänze, die blutrot sind und an Würmer erinnern, aber schon wieder aus ihrem Blick geraten, wenn sie in der endlosen Dunkelheit unter den Baumwipfeln verschwinden.
Trotz der Entfernung bemüht sie sich, ihre Stimmen zu hören, als sie ihr etwas zurufen. Sie fordern sie auf, zu ihnen herunterzukommen, an den schwarzen Steinen entlangzulaufen, unter dem hellen Glanz des weißlichen Himmels. Aber dann kommen ihr diese Laute eher wie Bellen oder wie ein Husten vor und gar nicht wie Stimmen, die nach ihr rufen. Und sie ist sich auch gar nicht mehr sicher, ob Kinder derart breite gelbe Zähne in ihren weit aufgerissenen Mündern haben sollten. Und sie halten Knochen in ihren kleinen Fäusten. Lange Knochen von menschlichen Armen und Beinen.
Dann erkennt sie, dass sie diese Knochen in die Steinkammer legen. Das ist die Kammer, in die sie gehen wird, um auf jemanden zu warten. Auf jemanden, der von dort draußen kommt. Von sehr weit her aus der Tiefe des schwarzen Waldes nähert sich etwas.
Die dünnen Stimmchen hinter ihr verstummen, und das Herumwuseln der kleinen Füße auf dem Holzfußboden hört auf.
Und plötzlich befindet er sich in dem alten Steingemäuer, in dieser uralten Kammer, die von den aufrecht gestellten Felsen gebildet wird, und sie kann den beißenden erdigen Geruch des Fußbodens riechen. Und dann bemerkt sie in dem dünnen Licht, das hereindringt, die Gebeine. Unglaublich viele Knochen. Sie sind über den ganzen Boden verteilt. Manche glänzen noch immer feucht und dunkel. Überall zwischen den Steinen liegen Knochen herum.

Sie schreckt aus dem Schlaf und schreit: "Nicht da rein! Nicht da rein! Bitte!"
Aber die drei Gestalten, die sich um ihr Bett versammelt haben, fassen alle zur gleichen Zeit nach ihr. Kreidebleiche Gesichter, durch die sich schwarze Linien wie feine Risse ziehen, nähern sich.
Zhandukan grinst böse. Das Weiße in seinen Augen tritt ungewöhnlich stark hervor und wirkt inmitten der schwarz umrahmten Höhlen umso bedrohlicher. "Wir haben deinen Freund gefunden, Praiala. Komm mit, wir zeigen ihn dir." Sein Mund ist zu rot, wo seine Lippen nicht mit schwarzer Farbe bemalt sind, seine Zunge zu deutlich zu erkennen, und seine Zähne sind zu gelb.
Baar packt sie mit seinen riesigen Händen und legt ihre Unterarme zusammen. Praiala versucht, ihre Hände wieder auseinanderzubekommen, aber Hazitai ist schon dabei, sie mit einem ledernen Band zusammenzubinden. Offenbar hat sie die Schnur schon um ihre Handgelenke geschlungen, als sie noch geschlafen hat. Jetzt zieht sie daran, und die Schlinge wird enger. Sie schneidet in ihr Fleisch ein, das sich violett verfärbt. Es tut sehr weh.
Sie wird in eine sitzende Position gebracht. Zhandukan zieht die Decke von ihren Beinen. Sie spürt die kalte Luft auf ihrer Haut und merkt, wie unbeholfen und zerbrechlich ihr Körper ist. Sie schämt sich für ihren jämmerlichen Zustand.
"Auf, auf", sagt Baar.
Zhandukan grinst sie an. "Mann, du stinkst aber."
Praiala versucht aufzustehen. "Nein, bitte, das tut weh … stopp!" Aber dann bringt der jähe Schmerz in ihren Handgelenken sie zum Schweigen, als Hazitai das Seil noch straffer zieht. Sie kann ihr Gesicht und ihr gehässiges lippenloses Lächeln nur noch durch einen Schleier aus Tränen wahrnehmen.
Zhandukan packt sie, gleichzeitig schiebt Baar eine seiner breiten Hände unter ihren rechten Arm. Gemeinsam ziehen sie sie hoch und aus dem Bett heraus, so dass sie sich hinstellen muss. Zhandukan grinst sie an. "Große Überraschung für dich heute, Praiala."
Sie zerren sie aus dem Zimmer, dann durch einen schmalen Korridor, stoßen und schubsen sie weiter. Hazitai geht voran, ihre nackten Füße klatschen über den Holzboden. Die Fußsohlen sind schwarz wie Teer. Baar folgt ihr mit gesenktem Kopf, um nicht gegen die Decke oder die Öllampen zu stoßen. Sein mächtiger Körper schiebt sich vor die Lichtquellen und verfinstert den engen Flur. Dicht hinter Praiala kommt der vor sich hin kichernde Zhandukan. Er ist so nah, dass Praiala seinen Atem am Ohr spüren kann.
Alle sind aufgeregt, aggressiv, ungeduldig und drängeln. Sie will sie anschreien, sie sollen sie in Ruhe lassen, aber der schockierende Gedanke, dass Quin dort draußen irgendwo ist, lässt sie verstummen. Er lebt also noch. Das ist doch kaum möglich.
"Wo habt ihr ihn gefunden? Wo ist Quin?"
Am oberen Ende der Treppe dreht Baar sich um, und die heftige Kopfbewegung lässt sein langes schwarzes Haar umherfliegen wie eine schwarze Flutwelle. "Er hat uns gefunden."
Praiala kann kaum noch atmen und auch das Sprechen fällt ihr schwer. "Geht es ihm gut?"
Zhandukan lacht und sagt: "Sehr gut sogar."
Baar verzieht das Gesicht und wendet sich dann ab.
"Ist alles in Ordnung mit ihm?", fragt Praiala. Ihre Orientierungslosigkeit lässt allmählich nach, der Schmerz in ihren Gelenken geht zurück.
"Vorsicht, die Stufen sind sehr alt. Da kannst du dich schnell auf den Arsch setzen", sagt Baar.
Zhandukan schiebt Praiala weiter. Sie rutscht die ersten drei Stufen hinunter, stößt gegen die uralten Wände und richtet sich wieder auf. Es ist, als würde man an Deck eines kleinen Boots oder in einer fahrenden Kutsche stehen. Ihr Gleichgewichtssinn ist gestört. Ob das daran liegt, dass sie gerade aufgewacht ist oder dass ihre Hände zusammengebunden sind oder dass sie eine Kopfverletzung hat, kann sie nicht sagen. Aber da sind sie auch schon im Erdgeschoss angelangt, und der Boden unter ihren nackten Füßen fühlt sich solide an. Aus der offenen Eingangstür dringt frische Luft herein, und der feuchte Geruch von Regen und Erde umfängt sie.
Sie betreten eine schmale Diele, von der eine unbeleuchtete Küche abgeht. Darin sind ein schwarzer eiserner Herd unter einem Kaminabzug, ein alter Tisch mit massiver Holzplatte, Stühle mit gebogenen Beinen und ein paar Schränke zu sehen, von denen die Farbe abblättert.
Durch eine Tür auf der rechten Seite fällt ihr Blick in ein größeres Wohnzimmer, dessen uralte dunkle Holzwände mit Geweihen, Schädeln und anderen düsteren Dingen verziert sind. Dann gibt Zhandukan ihr von hinten wieder einen Schubs, und sie stolpert durch die Tür nach draußen.
Die verkohlten Überreste des Scheiterhaufens vom Vorabend sind noch auf der Wiese zu sehen. Es riecht nach kaltem Rauch und feuchter Asche.
Links vor der Eingangstür des Turmes steht die alte Frau. Praiala erstarrt, als sie die winzige Person in ihrem langen ausgeblichenen schwarzen Kleid bemerkt. Die Augen funkeln in ihrem eingefallenen ausdruckslosen Gesicht. Ihr ungleichmäßiges, kurz geschnittenes weißes Haar ist ungekämmt. Sie steht da, im trostlosen morgendlichen Licht, und sieht sie desinteressiert an. Die jungen Leute scheinen sie gar nicht wahrzunehmen.
Praiala springt ein Stück von Zhandukan weg und stolpert eilig hinter Baar her.
Verzweifelt sieht sie sich um. "Quin, Quin, wo bist du?" Sie hofft ihren Weggefährten wiederzusehen. Außerdem will sie versuchen, einen Eindruck von dem Turm zu bekommen, in dem sie gefangen gehalten wird, und das Gelände erkunden. Aber sie taumelt doch nur völlig verwirrt über die Grasfläche vor dem Turm. Und dann bemerkt sie etwas, weiter oben, direkt vor ihr.

Es hängt im Baum, wie eine abgestürzte Harpyie, die völlig schlaff und willenlos herabbaumelt. Praiala muss den Blick abwenden und schnappt nach Luft.
Dann wirft sie den Kopf wieder zurück und schaut sich die zerfetzte Gestalt im Baum an, die direkt vor der Tür aufgehängt worden ist, so dass sie sie auch von ihrem Fenster aus sehen kann. Das rötliche und gelblich glänzende rohe Fleisch und die weiß schimmernden freigelegten Knochen heben sich vor dem Hintergrund des dunklen Grüns des Baums deutlich ab.
"Wir haben ihn mit unserer Musik dorthin beschworen, siehst du!", ruft Zhandukan laut hinter Praiala aus.
Praiala fällt auf die Knie, starrt ins Gras, dann auf ihre gefesselten Hände. Dann blickt sie wieder nach oben.
Diffuses Licht tröpfelt durch die Äste. Auf Quins Gesicht liegen Schatten, es ist vollkommen starr, wachsweiß unter dem struppigen Bart, der sich rechts und links der zerschlagenen Nase ausbreitet. Um den Mund herum sieht man Spuren von verkrustetem Blut. Sein Gesicht wirkt seltsam ausdruckslos, als wären ihm die Umstände seines Todes fast schon egal gewesen.
Die blassen Arme sind ausgebreitet wie die eines Betrunkenen, der seinen Freunden die Hände auf die Schultern legen möchte. Sie sind zwischen zwei Baumstämmen an den Ästen festgemacht, knapp drei Meter über dem Boden. Sein Oberkörper und seine Beine baumeln herab und wirken beinahe schwerelos, nachdem alles, was sich in seinem Brustkorb befunden hatte, daraus entfernt worden ist. Die noch feucht glänzende Wirbelsäule wirkt viel entsetzlicher als das Blut, das um seinen klaffenden Mund verschmiert ist. Von der Hüfte bis zu den Oberschenkeln ist ihm die Haut abgezogen worden. Nun ist er nichts weiter als ein Stück Fleisch, das man so auch in eine Metzgerei hängen könnte.
Praialas Sicht vernebelte sich, sie kann kaum noch Konturen wahrnehmen, dann wird alles vor ihren Augen weiß. Sie fällt zur Seite und blickt jetzt zurück zum Turm. Sie sieht ihn zum ersten Mal von außen. Er ist aus großen Blöcken massiven Gesteins gebaut, an der Fassade hängen die grauenerregenden Fratzen vieler Gargyle. Im Laufe von vielen Jahren ist das Mauerwerk völlig schwarz geworden und so mancher Wasserspeier zeigt Risse oder gänzlich ausgebrochene Stellen. Ganz oben hat der Turm ein spitzes dunkles Dach. Und in der Fassade erkennt Praiala kleine, schießschartenartige Fenster.
Zwei Paar Stiefel mit dicken Sohlen, die von den Spitzen bis zu den Absätzen mit silbernen Nieten beschlagen sind, kommen näher und bleiben direkt vor ihren Augen stehen.
"Es reicht jetzt. Es ist genug", sagt Praiala, auch wenn sie überhaupt nicht weiß, mit wem sie eigentlich spricht. "Nicht Quin. Es ist genug."
"Wir rufen sie, und sie kommt. Unsere Musik ist die reinste Magie", sagt Zhandukan aufgeregt. Als die Worte endlich in Praialas Kopf ankommen, verwirrt sie diese Aussage. Dann bemerkt sie, dass sie gar nichts mehr fühlt. Überhaupt nichts, als wären alle Nerven aus ihrem Körper entfernt worden wie man Unkraut aus einem Beet rupft. Als ihr klar wird, dass Zhandukan von dem Ding spricht, das Quins sterbliche Überreste hierhergebracht hat, schließt sie die Augen.
"Dies ist der abgelegenste und ungestörteste Ort in ganz Garetien, Praiala", wendet Baar sich jetzt wieder an sie. "Hier können die ältesten Dinge noch existieren, meine Liebe. Hier herrschen andere Regeln. Hier sind andere Energien vorhanden, verstehst du?" Praiala starrt immer noch den Turm an.
Zhandukan ergreift wieder das Wort. Hastig redet er auf Praiala ein, die in ihrer dreckigen Unterwäsche im Gras liegt, die Hände mit einem Lederseil wie ein Jagdfang verschnürt. "Diese Energien haben sie am Leben gehalten. Sie ist wirklich geblieben."
Dann spricht Baar mit seiner tiefen, weichen Stimme mit ihr, als wolle er ein verwirrtes Kind besänftigen: "Da ist etwas, das an das Licht der Welt drängt, Praiala. Es ist auch in uns. Etwas Schreckliches. Zerstörerisches. Ich kann es auch in dir spüren. Es hat dich hergelockt, stimmt’s? Und deine Freunde auch. Genauso wie uns. Aber ich muss dir leider sagen, dass die Unschuldigen manchmal geopfert werden müssen."
Zhandukan plappert atemlos und begeistert weiter. "Wie, glaubst du, haben sie hier wohl überlebt? Eine sehr lange Zeit haben sie hier überlebt. Niemand traut sich, sie anzugreifen. Sie leben wie sie wollen. Das hier ist der Ort an den Niemand kommt. Deshalb kann all das hier noch existieren."
Baars Stimme klingt distanziert, völlig unbewegt von dem schrecklichen Ende eines Vaters, Ehemanns und Freunds, von dem grausigen Schicksal des Mannes, der dort oben im Baum hängt. "Dies ist das Land unserer Vorfahren. Hier ist Calynaria noch lebendig. Und hier muss man aufwachen und sich dem ganz anderen stellen … dies ist das Herrschaftsgebiet einer Macht, die viel älter und viel größer ist als wir, Praiala. Das ist alles."
Und zum ersten Mal hört sie die Stimme der alten Frau: "Det som en gang givits ar forsvunnet, det kommer att atertas."
Baar und Zhandukan halten inne und drehen sich zu ihr um. Praiala schaut in ihr runzeliges, mitleidloses Gesicht. Ein paar graue schmale Zähne sind in ihrem lippenlosen Mund zu erkennen. "Det som en gang givits ar forsvunnet, det kommer att atertas", wiederholt sie, als stelle sie ganz einfach eine Tatsache fest. Ihre Stimme klingt brüchig, so alt ist sie schon, aber sie ist auf eine eigenartige Art melodiös.
Baar hockt sich hin, wirft sich das Haar über die Schulter wie einen Vorhang und wendet sein dilettantisch geschminktes Gesicht Praiala zu. "Sie sagt, dass das, was einst gegeben wurde, verloren gegangen ist. Und dass einer kommen wird, um es zurückzuholen."

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Re: Game Thread (IC)

Post by Idrasmine » Wed Jan 16, 2019 8:40 am

Das wirre Gerede der Jugendlichen geht unaufhaltsam weiter, doch Praiala folgt dem nicht mehr. Ihr Blick wandert stattdessen erneut über den finsteren Turm, erst danach nimmt sie die Umgebung darum herum wahr.
Das hoch aufragende Gemäuer steht inmitten einer Lichtung, umrahmt vom Blättergewirr des Waldes. Seitlich neben dem Gebäude erkennt sie eine zweispännige Kutsche mit großen Speichenrädern und, halb von Gebüsch verdeckt, einen großen Kastenwagen mit schlammbespritzten Kotflügeln, die vor einem überwucherten Obstgarten mit planlos angepflanzten Bäumen parken.
Eine schmale grasbewachsene Spur, die von den Wagerädern in den Boden eingegraben worden ist, führt an der kläglichen Ansammlung der Obstbäume vorbei und verschwindet dann hinter einer Biegung im Unterholz des Waldes.

"Glaubst du mir jetzt? Hä? Glaubst du mir?"
Hört sie Zhandukans schrille Stimme. Etwas schweres trifft die liegende Geweihte an der Schläfe. Es knackt in ihrem Schädel, als würden dort Eisschollen zerbrechen. Die Haut über ihrem Wangenknochen reisst auf. Rote Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen.
Als sie wieder klarer sehen kann, merkt sie, dass sie in den matten grauen Himmel starrt und weder ihren Mund schließen noch die Zähne zusammenbeißen kann. In ihrem Ohr hört sie ein Pfeifen, und die eine Seite ihres Kopfes brennt vor Schmerzen.
An der Schläfe, wo sie getroffen wurde, spürt sie eine ovale Schwellung, die sich knochenhart anfühlt. Ihr verletztes Gesicht nur anzufassen, verursacht ihr Übelkeit, also hört sie auf damit.
Sie blickt auf und erkennt, dass Baar seine Freundin und Erfüllungsgehilfin fest umschlungen in den Armen hält und hastig und drängend auf sie und Zhandukan einredet. Durch die wilden Strähnen, die Hazitais Gesicht bedecken, starrt sie Praiala böse an, mit dem Blick eines Kindes, dessen grausames Spiel von den Eltern unterbrochen wurde.
Über Baars Schulter hängt jetzt ein langer dunkler Gegenstand, teils aus Holz, teils metallisch glänzend. Es ist eine Windenarmbrust.
Praiala stellt sich vor was passiert wäre wenn sie versucht hätte zu fliehen. Er hätte seine weiß geschminkten Bluthunde hinter ihr hergejagd. Und wenn sie die Fliehende nicht gestellt hätten, dann hätte er diese Waffe benutzt. Baar hätte sie ganz einfach niedergestreckt. Es gibt keinen Weg hier raus. Praiala legt sich hin und verschließt die Augen vor einer kalten grauen Welt, die offenbar kein Mitleid mehr mit ihr hat.

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Re: Game Thread (IC)

Post by Idrasmine » Thu Jan 17, 2019 10:36 am

"Praiala, ich bemühe mich wirklich sehr, dich am Leben zu halten." Baar sieht sie lächelnd an. Seine Augen leuchten hell und blau in dem diffusen Licht, das durch das kleine Fenster fällt. Baar ist gut gelaunt, richtig gut. Er grinst fröhlich vor sich hin und wirft seine schwarze Mähne lässig über die Schulter. Er macht überhaupt keinen verbissenen oder besonders ernsten Eindruck mehr. Fast scheint es, als habe die Ankunft von Praialas abgeschlachtetem Gefährten die Spannung beseitigt, die in der Luft gehangen hatte. Außerdem ist er betrunken. Seine schwere Armbrust hat er neben der geschlossenen Tür gegen die Wand gestellt.

Bevor Baar gekommen ist, ist Praiala stundenlang ganz ruhig dagelegen. Sie hat gehört wie mehrere Leute angekommen sind. Ihre Stimmen waren im Erdgeschoß deutlich zu hören. Offenbar noch mehr von diesen kranken Jugendlichen.
Sie kann nicht mehr durch ihre Nase atmen, die sich anfühlt, als sei sie auf die vierfache Größe angeschwollen. Ihr Kopf wiederum ist aufgeplatzt wie eine reife Frucht. Die Augen sind geschwollen, durch das eine kann sie so gut wie nichts mehr sehen. Ihr ganzer Körper ist übersät mit winzig kleinen roten Wunden, die von den Bissen der Flöhe stammen, die sich in diesem grässlichen Bett breitgemacht haben. Zahllose Schnittwunden und Stiche sind an ihren Gelenken und Unterarmen zu sehen, außerdem hat sie sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Sie stinkt erbärmlich. Sie ist durstig. Sie hat Hunger. Sie ist völlig am Ende. Und sie merkt, dass ihr das alles völlig egal ist.
Trotzdem verachtet sie sich dafür, weil sie erleichtert ist, dass der riesige Kerl gut gelaunt ist. Sie findet es zum Kotzen, Baar gegenüber auch noch eine gewisse Dankbarkeit zu empfinden, weil er sie vor den anderen beiden beschützt hat, seit sie sie aus dem Wald hierhergebracht haben.
Aber warum schützt er mich?
Sie ist es leid, so hilflos zu sein. Sie ist krank und müde, und gleichzeitig hat sie genug davon, krank und müde zu sein und in diesem verdammten Zimmer herumliegen zu müssen, in diesem stinkenden Bett. Ihre Ängste und Schmerzen und das ganze grauenhafte Elend, das sie heimgesucht hat, noch bevor die drei sie fanden, hat sie schon zu Tode erschöpft. Aber nun hat sich herausgestellt, dass das kleine bisschen Hoffnung auf Rettung, das sie erfüllt hatte, als sie in diesem Zimmer aufgewacht war, vergeblich war. Die Hoffnung, diese jungen Leute hier würden Mitleid empfinden angesichts einer Frau, die verwundet und verwahrlost der Dämonenbrache entkommen war, würden sie als einen Mitmenschen erkennen und gehen lassen. Die andere, genauso infantile und lächerliche Hoffnung auf Hilfe von außerhalb ist ebenfalls verpufft. Hoffnung ist nur noch etwas, das sie müde macht. Ihr ständiges Auf und Ab inmitten dieser fürchterlichen Kopfschmerzen, ihr ständiges Kommen und Gehen, wenn sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht oder wieder in sie hineinfällt, aus einer grauenhaften Welt in die nächste, nicht weniger schlimme wechselt, ist schmerzhafter und hassenswerter als das Ertragen aller sadistischen Quälereien dieser verblödeten Heranwachsenden.
Sie geht jetzt davon aus, dass ihr Ende ohnehin sehr bald kommen wird.
Dann kann sie endlich aufhören, sich Sorgen zu machen. Vorher darf sie vielleicht noch einmal darüber nachsinnen, was sie an diesem Leben wirklich vermissen und wem sie dort draußen in der Welt fehlen wird. Für sie ist klar, dass sie sich nur noch eins wünscht: Dass dies alles möglichst schnell vorbeigeht. Das Ende soll bald kommen. Vielleicht kann sie es ja beschleunigen. Sie lächelt, und ihre aufgesprungenen Lippen schmerzen dabei.
"Deine Tattoos sind beschissen widersprüchlich, weißt du das, Baar?"
Ihre Stimme klingt belegt, ist kaum wiederzuerkennen. Aus ihrer Nase läuft Blut in die Kehle. Sie muss husten, und ihre Brust schmerzt. Sie richtet sich auf und spuckt alles aus, was in ihrem Mund ist. Sie schaut Baar an, und plötzlich spürt sie einen derartigen unbändigen Hass auf ihn, dass ihre Gedanken sich wieder aufklaren, als ihr Ekelanfall vorüber ist.
Der riesige Kerl hört auf zu grinsen. Er schüttelt den Kopf, sein weiß geschminktes Gesicht scheint erstaunt und amüsiert zugleich.
Praiala fährt fort. "Ihr verachtet die Zwölfgötter, hab ich Recht? Ihr habt also einmal einen Tempel angezündet. Weil ihr die Zwölfe hasst. Ihr tragt ein Heptagramm auf der Brust, ein anderes auf der Schulter und das Zeichen des Gottes ohne Namen auf eurem Bauch, falls irgendjemand noch mehr Beweise haben will, dass ihr eisenharte kompromisslose Dämonenanbeter seid."
Baar lacht und schlägt sich auf die Schenkel, dann nimmt er einen Schluck aus seinem Trinkhorn.
Praiala hört nicht auf zu reden. "Das bedeutet aber, dass ihr irgendwann einmal an den Namenlosen geglaubt habt. An den Dreizehnten, Baar. Andererseits habt ihr auch Tätowierungen, die arkane Motive zeigen. Zahyad-Glyphen zum Beispiel und so einen Scheiß. Du hast dir solche Zeichen auf die Knöchel tätowieren lassen. Das sind Zeichen zur Dämonenanrufung. Du trägst auch eine Darstellung Calynarias, wie ich sehe. Das ist aber etwas ganz anderes als der Namenlose. Also ich gehe mal davon aus, dass ihr beiden, du und Zhandukan, zurzeit total auf Calynaria abfahrt, richtig? Was aber bedeutet, dass ihr nicht an den namenlosen Gott glauben könnt, denn er duldet keine Anbetung anderer Götter. Also war das Zerstören dieses Tempels eine völlig sinnlose Angelegenheit, oder? Ein Tempel ist eine Stätte eines jahrhundertealten, tief empfundenen Glaubens, den ihr noch nicht einmal ansatzweise verstehen könnt, wie ich annehme. Ich habe viele Tempel gesehen. Die meisten sind wunderschön. Sie sind angefüllt mit Symbolen eines Kultes, der viel länger existiert als diese Absurdität, die ihr hier vom Stapel lasst. Jetzt habt ihr euch ja anscheinend schon wieder etwas neuem verschrieben. Aber das war ein Ort, an dem einfache Menschen Trost fanden. Sie gehören zur Kultur eures Landes, zu eurer Geschichte. Tut mir leid, dass ich jetzt klinge wie deine Mutter, Baar, aber ehrlich gesagt bist du nichts weiter als ein Vandale. Ein Arschloch eben."
"Praiala, ich kann dir ganz genau …"
"Also, an was glaubt ihr denn nun? Worauf wollt ihr eigentlich hinaus? Warum bin ich hier? Ich frage das, weil ich es aus meiner Perspektive einfach nicht erkennen kann. Ehrlich gesagt, habe ich auch keine Lust mehr, mich besonders anzustrengen, um herauszufinden, was euch beknackte Vollidioten antreibt. Ich glaube, ihr wisst überhaupt nicht, was ihr tut. Keiner von euch. Ihr seid bloß eine Gruppe beschissener kleiner Dummköpfe, die ein paar Grenzen zu viel überschritten haben. Und jetzt seid ihr so jenseits von allem und völlig im Arsch, dass es nicht mal mehr für euch irgendeinen Sinn ergibt. Also los. Tu’s doch einfach. Bring es hinter dich, du dummes bescheuertes Arschloch."
Baar hebt seinen riesigen Kopf, sieht zur Decke und lächelt. Dann nickt er. "Siehst du, das ist genau die Einstellung, über die ich mit dir reden möchte, Praiala. Wenn du so redest, bringst du dich nur in Schwierigkeiten. Aber weißt du was? Ich mag deine Art. Klar, du verstehst überhaupt nichts von unserem … Glauben. Aber das geht in Ordnung. Du bist genauso blind für die Wahrheit wie die meisten anderen. Also werde ich dich nachsichtig behandeln. Weil du eine Schlafende bist. Aber bald schon, denke ich, wirst du aufwachen."
Baar lehnt sich mit seinem breiten Rücken gegen die fleckige Wand. Er lächelt wehmütig, was überhaupt nicht zu seiner idiotischen aufgemalten Maske passt, dann seufzt er. "Weißt du was, Praiala? Es fehlt mir sehr, dass ich die Zwölfe nicht mehr bekämpfe. Immerhin haben die richtigen, echten Zwölfgöttergläubigen den Mut, mich zu verurteilen. Entweder gehörst du zu uns oder du bist verdammt. In dieser Hinsicht kann man viel von ihnen lernen. Das ist wahr. Man kann lernen, wie man das Absolute verteidigt. Es ist reiner Faschismus. Ich mag ihre Art." Er hebt seine riesigen Hände und schüttelt den Kopf, als wäre ihm gerade eine überraschende Erkenntnis gekommen. "In manchen Dingen hast du nicht ganz Unrecht. Zum Beispiel, wenn du annimmst, dass wir Tempel angezündet haben. Den letzten sogar in der Garether Altstadt direkt vor der Nase dieser dreckigen Spießbürger. Ich sehe nicht ein, warum ich das bereuen soll, aber das ist nur die eine Seite. Aber wie auch immer, es gibt noch Orte, wo wahre und viel ältere Kulte existieren. Zum Beispiel hier."
Baar lässt sich langsam auf den Boden sinken und lächelt sehnsüchtig. "Ich wusste schon mein ganzes Leben davon, verstehst du? Ich komme aus dieser Gegend. Ein Stück weiter südlich, nahe Silkwiesen, nicht weit entfernt. Dies ist meine Heimat. Ab und zu komme ich hierher zurück, um in eine andere Welt einzutauchen. Um zu entkommen. Um dorthin zu gehen, wo es diese beschissenen Priester nicht gibt, keine Regeln, keine Praioten oder sonstige autoritäre Scheißkerle." Er spuckt aus und trinkt aus seinem Horn. Trotz der vielen konkurrierenden Ausdünstungen in diesem Raum und dem Zustand ihrer Nase kann Praiala den unangenehmen Geruch von Baars Atem sogar in ihrem Bettkasten wahrnehmen.
"Wir sind erwacht, Praiala. Und wir wollen, dass unsere Brüder ebenfalls erwachen. Wir werden ihnen zeigen, wie das geht. Hier in der Brache. Und zwar mit unserer Musik. Das wird etwas ganz Besonderes, Praiala. Wir arbeiten an einer ganz intensiven Erfahrung, meine Liebe. Wir werden die Stimme der alten Göttin sein. Erhebt euch. Erhebt euch, wird sie sagen."
Er deutet mit dem Trinkhorn auf Praiala. "Wahre Magie, verstehst du? Deshalb kommen wir hierher. Isidian und ich, wir haben uns entschlossen, den anderen zu zeigen, was wahre Magie ist. Und ich habe nur die Stärksten mitgenommen. Solche, die uns bewiesen haben, dass sie böse genug sind. Dass sie … kompromisslos sind. Das ist ein Wort, das mir gut gefällt. Sie haben bewiesen, dass sie bereit sind, zu brandschatzen und zu töten. Ihnen sind Blut und Boden heilig."
Baar bricht in Gelächter aus. "Das ist vielleicht ein bisschen viel, oder? Zhandukan! Der ist nicht gerade intelligent, das denkst du doch, oder? Er hat schon Tiere getötet, als ich ihn in Eschenrod kennengelernt habe. Da gibt’s kaum noch Haustiere. Wenn ich zu ihm sage, entweihe dieses Grab, dann tut er das. Ganz einfach. Und was Tempel betrifft …" Baar macht ein Geräusch, das eine Explosion darstellen soll, und deutet mit den Händen aufflammendes Feuer an. "… bring einen Priester für mich um, hab ich ihm mal gesagt, als wir betrunken waren." Baar nickt und grinst, als würde er sich an eine besonders absurde und triviale Episode seiner Rebellion erinnern. "Und er hat es einfach getan."
Er blickt wieder ernst drein und nimmt eine gebieterische Haltung ein. "Um ein Magier zu sein, muss man lernen, wirklich böse zu sein, Praiala. Man muss in der Lage sein, sich in einen Blutrausch hineinzusteigern. Weißt du eigentlich, dass du wirklich Glück hast, dass ich dir das alles erzähle? Du bist der erste Mensch, der das alles erfährt und der noch am Leben ist. Verstehst du? Okay, du musst nicht darauf antworten. Aber ich werde dich trotzdem überzeugen. Wir haben neunundzwanzig Leute umgebracht. Darunter zwei Priester."
Baar grinst und trinkt noch einen Schluck. "Nicht schlecht, oder? Wir sind die schlimmsten Massenmörder, die Garetien je gesehen hat, nur weiß das bisher noch keiner. Das ist das Beste daran. Sie glauben nicht, dass so etwas im Herz des Reiches passieren kann, aber wir gehören zu den Ersten, die aufgewacht sind. Isidian und ich, wir sind Revolutionäre! Wir beleuchten den Pfad, den alle gehen werden. Und wir werden noch viel weiter gehen."
Er trinkt noch etwas. "Und Calynaria wird kommen, meine Liebe. Gib dich da keinen falschen Hoffnungen hin. Es wird viele Tote geben. Und es wird Blutopfer geben. Wir werden unsere Rache ausüben. Du wirst sehen. Du wirst es sehen."
Ab und zu während Baars Bekenntnisrede verliert Praiala ihr plötzlich aufgekommenes, heftiges Bedürfnis diesen Mann zu provozieren. Ihr ist nicht klar, was sie diesen jungen Leuten eigentlich glauben soll, oder was sie von alldem überhaupt noch für wahr ansehen kann. Aber sie bezweifelt sehr, dass Baar gelogen hat, als er von dem sprach, was die Gruppe getan hat, bevor sie hierhergekommen sind. Gerade während der Wirren des Orkensturms mag es nicht einmal aufgefallen sein, dass es diese Bande von Jugendlichen war und nicht die Schwarzpelze.
Praiala bricht in Gelächter aus. Irgendwas musste sie ja tun, um ihre Angst zu bezwingen. Wenn sie ihre Angst schürt, würde ihr das überhaupt nicht helfen. Das hat noch nie etwas gebracht. Sie hat einfach keine Zeit mehr für irgendwelche Ängste. Sie sind völlig nutzlos. Angst ist nichts weiter als ein ständig wiederkehrender Überlebensinstinkt, und für sie ist das Überleben sowieso nicht mehr möglich. Es wird Zeit, etwas ganz anderes auszuprobieren.
Baar starr sie böse an. Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte, das kann Praiala deutlich sehen. Diese jungen Leute wollen gefürchtet und verehrt werden, so wie es sich alle morbid veranlagten Heranwachsenden wünschen.
"Was ist denn passiert, Baar, hm? Was ist mit dem netten kleinen blonden Jungen passiert, der du zweifellos mal gewesen bist? Ich wette, du hattest mal so einen tollen Strickpulli mit Tieren vorn auf der Brust."
"Red nicht so einen Scheiß, Praiala. Du bewegst dich sowieso schon auf ganz dünnem Eis, meine Liebe."
"Du warst ein gesunder, gebildeter Abkömmling der Mittelklasse, Baar. Ein Kind, das in einem Landstrich aufgewachsen ist, das alle Welt beneidet. Weil man hier so gut leben kann. Und was ist deine Entschuldigung? Du wurdest verzogen, hast dich gelangweilt und das hat dich wütend gemacht. Und dann bist du zu weit gegangen. Und was ist aus dir geworden? Ein Brandstifter. Ein Vandale. Ein Entführer. Ein Mörder. Und weiß der Geier, was sonst noch alles."
"Praiala, Praiala, Praiala. Du bist wirklich dumm wie ein Schaf. Du schläfst."
"Und deine Freundin hatte irgendein traumatisches Erlebnis, bevor sie dich kennengelernt hat. Sie muss in Behandlung, Baar. Sie ist total durchgedreht, Mann. Ich dachte zuerst, ich wäre hier bei ein paar pflegebedürftigen Schwachsinnigen gelandet, aber diese Verrückte spielt echt in einer anderen Liga. Und vielleicht war Zhandukan ja auch schon längst durchgedreht, als du ihn getroffen hast. Ja, wahrscheinlich war es so. Das sind einfach zwei asoziale Außenseiter, die glauben, du seiest so eine Art Messias. Das ist nicht gerade der Stoff, aus dem man Revolutionäre macht. Das Ganze ist doch jetzt schon eine traurige und völlig sinnlose Geschichte."
Baar schüttelt enttäuscht den Kopf. "Praiala, du sprichst ja im Schlaf."
"Weil ich nicht das große Ganze sehen kann, Baar. Weil du und der Klotzkopf und die Prügelschlampe hier draußen was am Laufen haben, was normale Menschen ganz einfach nur als Sadismus und Mord bezeichnen würden. Deshalb bin ich ein schlafendes Schaf, weil ich nicht in der Lage bin, das große Bedeutsame an euren kranken verbrecherischen Aktionen zu sehen. Das werde ich ganz bestimmt nie können. Wenn ihr mich dann irgendwann umbringt, dann bin ich … na ja, einfach tot, aber ihr seid feige Mörder. Das ist alles, mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Es hat alles gar keine Bedeutung. Da ist überhaupt keine Magie oder irgendwas Besonderes dabei. Es ist einfach nur schäbig, erbärmlich und kaputt und genauso krank wie ihr und die Vollidioten, die euch nachlaufen und sich auch die Gesichter anpinseln, weil sie gern Gespenster spielen."
"Genau! Du triffst den Nagel auf den Kopf!" Baar grinst, steht auf und tritt an das Bett. Praiala zuckt unwillkürlich zusammen und verabscheut sich gleichzeitig dafür.
Baar hebt das Trinkhorn und gießt einen großen Schwall einer faulig riechenden Flüssigkeit über Praialas Mund. Sie schmeckt Apfelsaft und etwas, das wahrscheinlich Schnaps ist oder auch alchemischer Alkohol, und dann muss sie husten.
Baar setzt sich wieder auf den schmutzigen Boden. "Gut, oder? Ich glaube schon. Na, immerhin hast du schon kapiert, dass es hier um das große Ganze geht und alles zusammengehört. Es kommt nicht darauf an, dass wir die Zwölfe hassen oder die Bütteln oder die Schwuchteln. Das zeigt nur, dass wir es ernst meinen, ja. Aber du musst schon ein bisschen tiefer blicken, meine Liebe. Calynaria ist in uns erwacht. Und wir werden auf ihren Ruf antworten. Aber zu Anfang waren wir tatsächlich wie, äh … ja, wie Kinder, die etwas tun wollten, aber nicht wussten was und wie sie es tun sollten. Also haben war erstmal etwas anderes gemacht, verstehst du?"
"Nein."
Baar hebt die Hände, weil er offenbar das Gefühl hat, dass ihm die richtigen Worte fehlen. "Der Namenlose ist ein guter Ausgangspunkt, um das zu beschreiben, Praiala. Er ist ein guter Anfang, wenn man richtig böse werden will. Wenn man zeigen will, dass man auf die ganze Moral scheißt. Ich bin böse. Ich bin ein Anhänger des Namenlosen. Ich will Heiligtümer entweihen. Ich brenne sie ab. Ich töte. Das gehört dazu, wenn man sich von den anderen absetzen will, von den Schafen. Aber dann haben wir herausgefunden, dass es Calynaria ist, die in uns wirkt. Die große Göttin des Wandels. Das Blut unserer Vorfahren kocht in uns hoch. Wir dachten, es sei der Namenlose, aber das stimmt nicht. Es war Calynaria, die von uns verlangte, dass wir diese beschissenen Tempel der Zwölfe und den ganzen anderen Schrott zerstören, der überhaupt nicht hierhergehört. Wir sind Magier von Ash'Grabaal! Wir wurden in unserem eigenen Land, in dem unserer Vorväter, betäubt und eingeschläfert. Aber jetzt wachen wir auf. Wir werden auf die wilde Jagd gehen. Wir werden für Calynaria brandschatzen, wir werden töten, damit wir anschließend ganz erwachen können. Du siehst, es geht ums Erwachen. Das ist ein … äh … ein erster Schritt … die Ouvertüre. Wir machen den Weg frei für die alten Dinge, die vor langer Zeit begraben wurden. Wir werden eine neue Ordnung begründen. Um andere zu ähnlichen wilden Aktionen anzuregen. Verstehst du? Der Weltenbrand wird kommen, Praiala! Bald. Deshalb müssen wir jetzt schon damit beginnen, die Welt zu entweihen."
"Du hast nur Scheiße im Kopf, Baar."
Einen langen aufreibenden Moment lang sagt Baar überhaupt nichts, sondern starrt nur aus dem Fenster. Als er schließlich weiterspricht, ist der betrunkene Eiferer dem etwas nachdenklicheren Baar gewichen. "Ich hatte auch das Gefühl, hierhergelockt worden zu sein. Genau wie du. Das hat seinen Grund. Man kann es einfach nicht verleugnen. Das Schicksal hat uns hierhingeführt."
"Ich wollte bloß eine Nacht überstehen, Baar. Es hat überhaupt nichts mit deiner beschissenen Calynaria zu tun."
"Das siehst du aber ganz falsch." Baar wendet sich vom Fenster ab und wieder Praiala zu. "Du bist zur gleichen Zeit wie wir in den Wald gelockt worden. Du bist hierhergekommen, um diese schreckliche Erfahrung zu machen. Du hast es nur noch nicht gewusst. Aber wir sind alle hier, weil die wilde Jagd stattfinden wird. Die echte wilde Jagd. Die älteste Jagd, die es überhaupt gibt. Sie will einen Zeugen haben. Und ein Opfer. Deshalb hat sie uns alle angelockt. So wie es auch früher geschehen ist. Von allen Wegen, die durch diesen Wald führen, seid ihr ausgerechnet auf diesem Pfad gelandet. Das war ein großer Fehler, meine Liebe. Die Garether haben irgendwann mit den Opferungen und den wilden Riten hier in der Brache Schluss gemacht. Vor langer Zeit. Aber die alten Bräuche sind nie wirklich zum Erliegen gekommen. Und was einst hier drinnen gewesen ist, vor langer Zeit, musste einfach nur wiederbelebt werden, verstehst du? Die Jagd fand einst zur Winterpraioswende, Anfang Firun, statt, aber dieses Jahr hat sie schon früher begonnen. Und das war sehr schlecht für dich und deine Freunde, fürchte ich."
Baar schlägt sich auf die Brust. "Wir sind an diesen Ort gekommen, wo früher die wilde Jagd stattgefunden hat. Das hat was mit Magie zu tun, mit wahrer Magie. Ich kenne die Geschichten noch aus meiner Kindheit. Hier in diesen Wäldern hat es einen Kult gegeben, vor sehr langer Zeit als Gareth noch den Orks gehörte." Er starrt Praiala an. "Wir können nirgendwo sonst mehr hingehen. Wir haben alle Brücken hinter uns abgebrochen. Einige Leute sind sehr schlecht auf uns zu sprechen und suchen nach uns. Aber das ist Schicksal. Das Schicksal führt uns nach Hause. Das Schicksal hat uns keine andere Wahl gelassen, als hierherzukommen. Das ist die einfache Wahrheit."
Praiala schnaubt und fährt dann zusammen, als der Schmerz hinter ihren Augen aufflammt. Sie wischt sich die Tränen aus den geschwollenen Augen. "Das hat überhaupt nichts mit Schicksal zu tun. Ihr seid einfach nur auf der Flucht. Und ihr werdet gefasst werden. Irgendwann, das steht fest. Und meine Gefährten wurden tatsächlich von einem … unnatürlichen Ding getötet, das gebe ich gern zu. Aber eine Göttin war das bestimmt nicht."
Baar deutet zu Boden. "Das siehst du ganz falsch, meine Liebe. Sie weiß es. Und sie hat uns gesagt, dass die alte Jagd in diesem Jahr schon früher begonnen hat. Also sind wir losgegangen, um es uns anzusehen. Und sie hat uns etwas gezeigt, das so alt ist, dass du es kaum glauben kannst. Und dabei haben wir auch dich gefunden. Es gibt hier niemanden mehr, der eine Opferung durchführen kann, Praiala. Also nimmt sie sich das, was gerade kommt, verstehst du. Nimmt es sich einfach. Kapiert? So wie deine Freunde. Du und deine Freunde, ihr habt bewirkt, dass die Jagd früher beginnt. Aber es müssen noch Riten folgen, so wie es früher einmal gewesen ist. Sie hat es uns gesagt. Etwas muss ihr gegeben werden, Praiala. Jetzt wieder. Es muss der echten Göttin des verborgenen Königreiches geopfert werden. So wie es früher einmal war. Und so wird es wieder sein, jetzt wo wir hier sind. Verstehst du? Sie ist nämlich zu alt dafür. Deshalb kommen wir nun dazu. Um etwas zu geben. So wie andere früher etwas gegeben haben. Um Teil einer großen Wahrheit zu werden. Einer uralten Wahrheit. Um etwas zu geben und der Göttin näherzukommen. Der einzigen, die es wert ist, von uns verehrt zu werden. Es ist die … äh … Geste, die zählt. Es ist wie beim Tsatag, wichtig ist, dass man etwas gibt." Baar bricht in lautes Gelächter aus, so sehr amüsieren ihn seine Worte. Praiala sagt nichts.
"So wie es aussieht, wirst du geopfert. Vielleicht schon heute Nacht. Das hoffen wir jedenfalls. Wir kommen immer näher heran. Wir haben jetzt Kontakt aufgenommen. Und du liegst völlig falsch, denn unsere Göttin weiß, dass wir hier sind. Um das zu tun, was einst hier getan wurde. Niemand außer uns wird es tun. Niemand ist so kompromisslos. Außerdem gibt es hier oben sowieso niemanden, der sich darum kümmern könnte. Es ist alles Schicksal. Und das, was wir geben müssen, ist auch gekommen. Du, Praiala. Du bist im gleichen Moment auf der Bildfläche erschienen wie wir. Wenn das kein Zeichen ist."
Baar hebt die Hände und macht eine Handbewegung, die den ganzen Raum umfasst, den ganzen Turm, den ganzen Wald. "Dies hier waren die alten Magier. Die ersten Menschen hier. Aber bevor sie herkamen, gab es schon andere Dinge hier. Und die Magier haben denen, die schon vor ihrer Zeit hier lebten Tribut gezollt, damit sie bleiben durften. Um hier im Wald leben zu dürfen, Türme zu erbauen, zu lernen und mit ihrer Zauberei eigene Dinge zu erschaffen. Das war vor langer Zeit. Sie gaben der Göttin zu essen und zu trinken, und es ist ihnen gut gegangen. Sie gaben ihr Tiere, die sie zerreißen konnte, und der Wald wuchs und gedieh und schützte sie. Das ist die Lebensweise der Alten gewesen. Sie wurden zurückgedrängt, wurden gezwungen, sich in die Tiefe der Brache zurückzuziehen. Von den Garethern und den Priestern der Zwölfe." Baar schüttelt den Kopf, gibt sich verbittert und verzweifelt, dann blickte er wieder auf. "Sie haben ihr viele Namen gegeben hier draußen. Als ich noch ein kleiner Junge war, wurde sie in meiner Familie ›der Winterunhold‹ genannt, aber das ist kein wirklich guter Name, finde ich. Aber in diesen Wäldern ist sie eine Göttin. Eine sehr reale Göttin. Da kannst du dir sicher sein. Die Zwölfgöttergläubigen Heuchler und Speichellecker nennen sie eine Dämonin. Aber sie ist eine Göttin. Nur eben nicht ihre Göttin." Er zuckt mit den Schultern. "Dieser Ort ist heilig. Hier wird es zur Auferstehung kommen. Wir sind hergekommen, um die Musik für diese Auferstehung zu machen. Um ein Opfer darzubringen und dafür gesegnet zu werden. Um die Botschaft weiterzuverbreiten. Um die Gegenwart einer Göttin zu erfahren. So wie es unsere Vorfahren getan haben. Und du meine Freundin, bist besonders privilegiert. Du wirst sie sehen."
"Ich hab sie schon gesehen."
Baar nickt. "Ich beneide dich darum, meine Liebe. Und wir werden sie auch sehen, wenn sie kommt, um dich anzunehmen. Bald schon. Jetzt haben wir nämlich dich, Praiala. Jetzt haben wir etwas, das wir geben können. Verstehst du? So wie es sein soll. So wie es einst war. So wie Calynaria es gewünscht hat. Und sie wird zu uns kommen. Die Alte hat es versprochen, Praiala. Sie hat dich extra dafür gerettet. Das ist der einzige Grund, warum du noch ein bisschen länger leben durftest. Damit du unser Tribut sein kannst. Unser Blutzoll. Unsere Einführung in die alten Bräuche. Du bist der Beweis, dass wir es ernst meinen."
"Das ist keine Göttin, Baar. Du bist total auf dem Holzweg. Die Zwölfe sind der Wahrheit nähergekommen. Alles, was du getan hast, war völlig sinnlos. War absolut bedeutungslos. Hat keinen Zweck. Ich hab ihren Tempel gesehen, er ist total verfallen, Mann. Und die alten Steine sind überwuchert. Niemand kümmert sich um den alten Friedhof. Das ist alles längst vergessen, Baar. Es ist vorbei. Ausgestorben. Nur diese eine alte Frau ist noch übrig geblieben. Und die wird es auch nicht mehr lange machen. Und du bist viel zu gelangweilt und dumm, um hier für längere Zeit bleiben zu können. Also ist es eben vorbei. Es gibt keinen Kult mehr, der irgendeine alte, wilde, bösartige Bestie verehrt oder was immer das ist. Es gibt keine Opferungen mehr. Es wird nicht mehr gemordet. Das Ding, das du eine Göttin nennst, hat überhaupt keine Zukunft."
Baars Augen weiten sich und scheinen sogar für sein breites Gesicht viel zu groß zu sein. Seine Lippen beginnen zu zittern. Er ist betrunken, er wird angesichts von Praialas Verweigerungshaltung von seinen Gefühlen übermannt. Wieso kann diese Frau das nicht verstehen, wieso will sie nicht einlenken, warum kann sie nicht einfach glauben?
"Ihr werdet alle im Gefängnis landen", fährt Praiala fort. "Aber dann seid ihr wenigstens berühmt. Das ganze Streben nach Aufmerksamkeit wird sich ausgezahlt haben, was? Ich kann dir sogar ganz genau sagen welche Strafen das Gesetz für euch bereithält. Und ich bete, dass sie euch bald erwischen. Weil man euch und dieses üble Ding da draußen ausschalten muss … für immer. Das ist das Einzige, was ihr verdient."
"Du siehst das falsch, Praiala aus Gareth. Ich werde es dir beweisen. Ich werde es dir zeigen. Und dann wirst du ganz genau wissen, warum du hier sterben musst."

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Post by Idrasmine » Fri Jan 18, 2019 3:52 pm

Sie kommen wieder zu ihr. Alle zusammen. Vor ihrem Zimmer hört sie das Geplapper von Zhandukan, die nackten Füße von Hazitai, die über den staubigen Boden schlurfen, und den Widerhall von Baars riesigen Stiefeln und das hastige laute Trippeln der alten Frau, die die Prozession durch den dunklen Turm anführt. Abgesehen von dem, was sie am Morgen draußen vor dem Turm gerufen hat, hat Praiala die alte Frau noch nicht sprechen gehört. Aber irgendetwas scheint sie jetzt aufzuregen. Obwohl sie sonst eher stumm bleibt, hat sie vorhin, bei der Auseinandersetzung dort unten im Erdgeschoss, offenbar großen Wert darauf gelegt, angehört zu werden.
Sie hat ihre vom Alter gezeichnete Stimme erhoben und die jungen Leute ermahnt, in ihrem eigenartigen altertümlichen Singsang, der bis hier oben unter das schummrige Dach gedrungen ist. Sie vermutet, besser gesagt, hofft inständig, dass sie sie angefleht hat, noch nichts zu unternehmen. Sie zum Beispiel jetzt nicht umzubringen, nicht hier in diesem Turm, der offenbar ihr Heim ist. Aber dann sieht sie wieder ihr unerbittliches kleines Gesicht vor sich und bezweifelt, dass ihr Leben für diese winzige Gestalt überhaupt von Belang ist. Vielleicht hat sie sich einfach nur über irgendetwas anderes mit Baar gestritten. Was immer das gewesen ist, es macht Praiala Angst.
Ihre Beziehung zu den Jugendlichen ist ziemlich merkwürdig. Sie ist weder mit ihnen verwandt noch mit ihnen befreundet. Möglicherweise ist sie noch nicht einmal richtig mit ihnen verbündet. Während des Streits hat sie geglaubt herauszuhören, dass sie die Rolle einer zögerlichen Gastgeberin spielt und versucht einen vernünftigen Kompromiss für die widerstreitenden Interessen zu finden. Zumindest hofft sie das, auch wenn Hoffnung für sie zu einer gefährlichen Sache geworden ist, der sie sich lieber nicht zu sehr hingeben will. Was auch immer Baar ihr angedroht hat, was auch immer er ihr beweisen oder zeigen wollte – die alte Frau scheint absolut dagegen zu sein.
Seit ihrem Ausflug am Morgen ist sie an Hand- und Fußgelenken mit Lederbändern gefesselt. Diesmal wird sie gar keinen Widerstand leisten können. Und auch die Möglichkeit, einfach wegzulaufen, ist ihr nun genommen.
Die Tür zu ihrem Zimmer wird geöffnet.
Praiala bemüht sich völlig ausdruckslos dreinzublicken, schaut sich aber das Gesicht der alten Frau ganz genau an. Sie starrt zurück. Ihr kleiner Mund ist zusammengekniffen, sie wirkt verbissen.
Baar und Zhandukan tragen ihre Dolche in Scheiden an den Gürteln. Das Lederband an ihren Knöcheln wird von Zhandukan zerschnitten, damit sie aufstehen und laufen kann.
Sie wird an den Armfesseln aus dem Bett gezerrt und aus dem Zimmer geschoben. Draußen ziehen sie sie rechts den Korridor entlang und führen sie durch den dunklen Turm nach oben, nicht nach unten und hinaus, wie sie es vermutet hatte.
Am Ende des Flurs bleibt die alte Frau am Fuß einer Treppe stehen und blockiert den Weg. Die Treppe ist so klein und schmal, dass Praiala der Gedanke kommt, sie könnte vielleicht für Kinder gebaut worden sein. Im gelblichen Lichtschein der Lampe, die Baar in der Hand hält, schimmern ihre tiefliegenden Augen böse und zornig. Gleichzeitig wirkt sie ängstlich, wie eine Mutter, die sich um das Wohlergehen ihrer Kinder Sorgen macht.
Dann dreht sich die kleine alte Frau um und trampelt mit laut klackernden Schritten vor Baar die Treppe hinauf, als wolle sie unbedingt als Erste oben ankommen. Jetzt, wo sie offenbar eingesehen hat, dass sie die drei jungen Leute nicht von ihrem anmaßenden und unheilstiftenden Vorhaben abbringen kann, hastet sie überraschend flink nach oben. Auf ihren kurzen Beinen hetzt die winzige Alte mit dem wirren weißen Haarschopf hinauf in den Schatten. Und während der Saum ihres fadenscheinigen Rocks über die Stufen gleitet, erscheint sie Praiala wie eine beunruhigende und hässliche Puppe, die plötzlich zum Leben erwacht ist.
Praiala wird nach oben geschoben, dorthin, wo der Geruch nach Alter und Verkommenheit noch stärker ist. Zhandukan schubst sie voran, und sie wird gegen den vorangehenden Baar gedrängt, während sie durch das enge dunkle Treppenhaus hinaufsteigen wie durch den aufgesperrten Rachen eines Untiers. Von oben kommt ein staubiger, herb riechender Hauch abgestandener Luft, die sich unter den uralten krummen Balken angestaut hat, und vermischt sich mit den unangenehmen Ausdünstungen von vertrocknetem Fleisch. Der Geruch scheint von kleinen Kadavern zu kommen, den Resten von Vögeln oder Nagetieren, die hier herumliegen. Es ist der gleiche Gestank, erinnert sie sich, wie in dem Lagerhaus im Havener Südhafen das Alawin’s Familie angemietet hatte. Dort haben jede Menge toter Ratten herumgelegen.
Ihr Herz fängt heftig an zu pochen, als sie diesen Geruch identifiziert, die Augen tränen ihr, weil sie kaum noch in der Lage ist zu blinzeln, während sie sie immer weiter nach oben stoßen, dem Ende der Treppe entgegen. Irgendwas haust dort oben, die Geräusche hat sie ja in der letzten Nacht gehört. Die Tatsache, dass inmitten dieses grässlichen Gestanks nach vertrocknetem Verfall etwas lebt, widert sie derart an, dass sie am liebsten keinen Schritt mehr weitergehen würde.
Baar stolpert und wird immer langsamer. Er muss sich ducken, weil er so groß ist, dass er beinahe gegen die uralten Balken stößt oder die gewellten Bretter und den ausgebeulten losen Verputz berührt. Das diffuse gelbliche Licht der Lampe in seiner Hand wirft einen warmen Schimmer nach unten zwischen seine Beine, und kurz kann Praiala seine Füße sehen, die über die schmalen, ausgetretenen und abgenutzten Stufen nach oben steigen.
Das Mädchen bleibt unten stehen. Ihr Gesicht ist ernst, wirkt wachsam, vielleicht sogar verängstigt. Ihre blassblauen Augen sind weit aufgerissen, und sie scheint sich vor dem zu fürchten, das Praiala dort oben erwartet. Zweifellos gibt es da etwas, das sie schon einmal gesehen hat, aber nicht noch einmal in Augenschein nehmen will.
Dennoch bleibt ihr nichts weiter übrig, als weiter hinaufzusteigen, taumelnd, von Zhandukan gestoßen und von Baar gezogen, bis sie den dunklen Raum betritt.
Abgesehen vom schwachen Schein von Baars Lampe, die er jetzt auch noch abschirmt, ist es dunkel. Es scheint, als würde er die Flamme im Innern der gläsernen Laterne verdecken, um zu verhindern, dass jemand geblendet wird, der empfindliche Augen hat.
Verwinkelte Wände, Treppen und Balken stützen die windschiefe Konstruktion des großen Raumes, verbergen aber gleichzeitig das, was sich dort befindet, schirmen es ab, bewahren es und konservieren seinen Zustand. Praiala kann jetzt schon ahnen, was sich ihr gleich offenbaren wird, welcher Schrecken ihr bevorsteht. Das Grauen, das sie gepackt hat, ist so intensiv, dass sie nicht einmal mehr schlucken kann. Verzweifelt versucht sie die Erinnerungen an das was sie in jenem uralten Haus am Rande der Dämonenbrache gefunden hat aus ihrem Gedächtnis zu bannen, aber es gelingt ihr nicht.
Kaum sind sie in dem großen Raum angekommen, beginnen Baar und Zhandukan mit irgendwelchen verhaltenen Ehrerbietungen.
Eine stinkende Hand schiebt sich über Praialas Gesicht und legt sich von hinten über ihren Mund, als wolle jemand sicherstellen, dass sie sich respektvoll ruhig verhält. Es ist Zhandukan. Die schmale schmutzige Hand bleibt dort liegen und verhindert jede Bewegung ihrer Lippen. Die knochigen Schultern und der Brustkorb des Jungen drängen sich an sie und schieben sie weiter voran ins Dunkel. Sie schaut zu Boden, um zu sehen, wo sie mit ihren nackten Füßen hintritt.
Irgendwo links von ihr leuchtet ein orangefarbenes Licht. Baar hat die alte Öllampe auf den Boden gestellt und sich daneben gehockt. Nun lehnt er mit dem Rücken an der Wand. Kurz blickt er Praiala in die Augen, dann wendet er den Kopf und hebt die Lampe an, damit der schwache Lichtschein etwas weiter fällt. Damit sie es sehen kann. Alles sehen kann.
Das schmuddelige Licht erhellt den Raum direkt vor ihr, und am liebsten würde sie ihre Augen davor verschließen und für immer geschlossen lassen. Sie sieht einen weiten, runden Raum, dessen Wände scheinbar fast die gesamte Länge der Außenmauer des Turmes ausmachen. Die Decke ist sehr niedrig, und Praiala kann gerade noch aufrecht stehen. Die am weitesten entfernte Seite des Raumes bleibt im Dunkeln. Aber sowohl auf der rechten wie auf der linken Seite ist wahrhaftig schon genug zu erkennen.
Das schreckliche Monument im Wald, der Schrein, war ihnen offenbar nicht genug. Aus irgendwelchen Gründen mussten diese Toten nach Hause gebracht und hier aufbewahrt werden.
Kleine, schmale Körper säumen die Steinwände auf beiden Seiten, stehen angelehnt da oder hocken mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, und ihre knochigen Beine glänzen wie poliert. Glatte Köpfe ohne Haare neigen sich. Münder hängen offen, und ihre pergamentenen Gesichter wirken dadurch wie die von Schlafenden.
Es sind sehr kleine Menschen, deren Kleider im Laufe der Zeit eingeschwärzt wurden und an ihren knochigen Körpern kleben oder derart verblichen sind, dass auch die letzte Spur von Farbe aus dem Stoff verschwunden ist, der nun schlaff und staubig um die Skelette hängt, die sich darunter verbergen.
Einige der Gestalten sind mit Tüchern zusammengebunden, damit ihre Arme sich nicht vom Körper lösen. Aber ein Stück weiter stehen Holzkisten, die bis oben hin mit Knochen gefüllt sind. Hier und da ragen rundliche Schädel hervor, die auf bleichen, geknickten Wirbelsäulen stecken. Von anderen Bewohnern dieses riesigen Reliquienschreins sind nur noch Knochenhaufen, mitunter nur noch Staub und Splitter, übrig geblieben, die sich über den rohen Holzboden verteilen. Es gibt auch noch andere Gestalten, die in kleine Kästen gestopft worden sind, deren Überreste größtenteils noch vollständig scheinen, über deren Knochen sich eine dunkle lederne Haut zieht und deren kahle Schädel sich an die mit Schnitzereien verzierten Wände lehnen, als hätten sie sich zur Ruhe gelegt. Eine andere mit Flecken übersäte Gestalt ist unbeholfen in etwas eingenäht worden, das wie Birkenrinde aussieht. Darin sitzt sie nun und grinst mit der Fratze des Todes über den Rand dieser urtümlichen Hülle.
Zhandukan schiebt Praiala weiter voran, und sie bemerkt die Köpfe von einem weiteren halben Dutzend aufrecht stehender Toter, deren Gesichter gelblich verfärbt sind. Lippenlose Mäuler gähnen sie an und scheinen etwas sagen zu wollen. Trübe Augen starren vor sich ins Nichts, mit leicht erhobenen Köpfen, als würden sie sich nach ein wenig Licht sehnen. Sie tragen dunkle Gewänder, die wie versteinert wirken, aber noch nicht hart geworden sind, ihr Fleisch klebt trocken an den dünnen Knochen. Ihre Haut schimmert und suggeriert eine Geschmeidigkeit, die Praiala lieber gar nicht wahrgenommen hätte.
Am Ende des Raumes bemerkt sie die alte Frau, deren Gesichtsausdruck nicht zu ergründen ist. Sie steht teilweise im Schatten neben zwei kleinen zusammengekauerten Gestalten, die eingehüllt sind in eine schmutzige schwarze Tracht oder Roben. Sie sitzen auf zwei kleinen Stühlen. Uralten Stühlen. Kinderstühlen. Nebeneinander, wie ein kleiner König und eine kleine Königin, die man als Mumien in ein Grab gesetzt hat, um sie auch nach ihrem Ableben weiter zu verehren.
Praiala erinnert sich an die Bruchstücke eines Traums, den sie kürzlich gehabt hat. Ihr fallen die Geräusche ein, die Stimmen, die sie in der Nacht durch die Decke über sich vernommen hat. Und nun spürt sie sehr deutlich, wie ihr gesunder Menschenverstand sie immer mehr im Stich lässt.
Und dann beginnt das Flüstern. Hinter ihr. Um sie herum. Es schwillt an und ebbt wieder ab, auf und ab, auf und ab. Nicht lauter als das Kratzen von Rattenpfoten auf dem Holzboden, ein leiser dünner Zusammenklang ausgetrockneter Münder, aber dennoch deutlich zu vernehmen. Unmöglich.
"Det som en gang givits ar forsvunnet, det kommer att atertas", sagt Baar, der immer noch neben dem Eingang lehnt.
"Det som en gang givits ar forsvunnet, det kommer att atertas", flüstert Zhandukan in ihr Ohr.
Praiala sieht – oder bildet es sich wohl eher ein, denn so etwas Altes kann doch niemals lebendig sein –, dass die Gestalten auf den kleinen Stühlen sich bewegen.
Sie strengt die Augen an, späht durch das schwache Licht. Und da ist es wieder. Das Zucken eines vertrockneten Schädels. Das sachte Heben eines Kinns. Ein Rascheln wie von altem Papier. Ein Seufzen.
Zhandukan stößt sie näher dorthin, und sie stolpert auf gefühllosen Beinen voran.
Die zerlumpten Silhouetten, Überreste einer schauerlichen, längst vergangenen Welt, starren sie von allen Seiten an. Sie bemerkt andere Bewegungen um sich herum, kaum wahrnehmbar wie bei Blättern, die von einem leichten Lufthauch erzittern. Beinahe hätte sie laut aufgeschrien, sie kann sich nur mühsam beherrschen, indem sie sich einredet, dass diese geisterhafte Lebendigkeit nur vom Flackern des gelblichen Lichts der Lampe verursacht wird. Aber sie traut sich nicht, den Kopf zu drehen, um sich davon zu überzeugen, dass diese leichte Unruhe, die sie bei den aufrecht stehenden, ausgedörrten und mumifizierten Gestalten bemerkt hat, wirklich nur ein Trugbild war, das vom Lichtschein verursacht wurde oder vielleicht auch von einem Luftzug, der zwischen den alten Deckenbalken hindurchdrang. Doch sie kann sich nicht in diese Spekulationen vertiefen, denn nun ziehen die beiden kleinen Gestalten auf den Stühlchen ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Ein kleiner Mund öffnet sich und entblößt da, wo einmal Fleisch gewesen war, zahnloses knorpeliges Gewebe. Ein papiertrockenes Lid erzittert, öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine tiefe dunkle Augenhöhle. Im Licht der Lampe schimmern die schwarzen Augen auf.
Die Hand der zweiten kleinen Gestalt rutscht von der Lehne herunter in ihren Schoß, die Finger zusammengeballt, als halte sie Würfel darin versteckt. Ihr Kopf senkt sich und hebt sich wieder. Es sieht aus, als würde diese kleine Person gerade aus einem tiefen Schlaf erwachen oder dagegen ankämpfen. Ein kleiner zierlicher Fuß bewegt sich, ein knochiger Fuß, der in einem spitzen Schuh steckt, dessen Leder im Laufe von Jahrhunderten rissig geworden ist und sich dunkel verfärbt hat.
Sie leben.
"Das sind die Alten", murmelt Baar.
Augenblicklich werden Praialas Gedanken wieder klar. Ihre eigenen Toten und langsam Sterbenden sind für sie kostbar. Das Leben von Fremden hingegen bedeutet ihnen nichts. Die dürfen gejagt und geschlachtet werden wie Wild in den Wäldern, um sie anschließend in die schmutzige Krypta eines verlassenen Schreins zu werfen. Diese spröden sterblichen Überreste aber werden aufbewahrt und andächtig verehrt.
"Hier verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, alles ist eins", flüstert Baar.
Zhandukan nimmt seine Hand von Praialas Mund. Praiala erschauert und macht ein Geräusch, als würde sie in kaltes Wasser gestoßen. Und plötzlich versteht sie, dass für diese alte Frau, die hier in der Brache lebt, nichts so wichtig ist wie die Nähe zu ihren Vorfahren. Für sie leben sie immer weiter. Sie lebt mit den Toten. Sie hält die Verbindung zu den schrecklichen Dingen aus längst vergangenen Zeiten aufrecht. Der Schrein und der Boronsanger sind Orte, an denen Opfer dargebracht wurden, dies hier hingegen ist die letzte Ruhestätte von Angehörigen einer uralten Religion. Es ist geradezu widerwärtig.
Praiala stöhnt erneut auf, als ihr das Ausmaß dieser grauenhaften Zusammenhänge klar wird. Es ist weniger ein Erschauern als ein Schock. Als sie ausatmet, klingt es, als würde ihre ganze Lebenskraft sie verlassen.
Ein solcher Ausdruck schierer Verzweiflung scheint an diesem Ort geradezu provozierend zu sein. Sie bemerkt einen vertrockneten Kopf mit einem ebenso vertrockneten Mund, der zu ihrer Linken an der Mauer lehnt und sich nun öffnet und sich ihr zuwendet. Und dann zuckt der Körper unterhalb dieses Kopfes, und die beiden Körper, die neben dieser Gestalt stehen, regen sich ebenfalls, als wollten sie durch die modrige Düsternis näher kommen.
Praiala senkt den Blick, um diese gespenstische Rastlosigkeit nicht weiter ansehen zu müssen. Aber in dem bräunlichen Licht bemerkt sie, dass die Beine dieser aufrecht stehenden Gestalt unten in nackten Knochen enden. Keine Füße, sondern Hufe. Und dass die Unterschenkel sich am Knie in die falsche Richtung biegen. Als hätte man den Gestalten die Gebeine von Tieren an den Rumpf genäht. Praiala erinnert sich an die dünnen Vorderläufe eines anderen Dings, das sie an einem ähnlich blasphemischen Ort hier in der Brache entdeckt hatte, und an die kleinen schwarzen mumifizierten Hände, die an den knochigen Gelenken befestigt waren.
Sie wimmert und stöhnt qualvoll auf.
Praiala prallt zurück gegen Zhandukans Schulter, die sie noch immer nach vorn drängt. Sie kommt sich vor wie jemand, der an den Rand eines Abgrunds geschoben wird oder immer näher an ein gefährliches, in die Enge getriebenes Tier. Zhandukan drückt kräftiger und versucht, Praiala noch dichter an das Ding heranzuschieben.
"Nay", sagt die alte Frau.
"Nein, nein!", sagt Baar.
Aber Zhandukan hört nicht auf sie und schiebt noch fester, bis Praiala beinahe vornüberkippt und zu Boden fällt. Sie setzt einen Fuß voran, um das Gleichgewicht zu halten. Ihr Gesicht nähert sich den beiden sitzenden Gestalten auf den kleinen Stühlchen.
Vor sich hört sie ein Geräusch, das wie ein Luftschnappen klingt. Das plötzliche heftige Einatmen eines knochentrockenen Brustkorbs. Dann ein leises Knirschen, als sich ein Kieferknochen in einem kleinen fleckigen Gesicht bewegt.
Die zweite kleine Gestalt scheint wie in Zeitlupe den Kopf zu schütteln, als wäre sie aus irgendeinem Grund verwirrt. Dann schlägt der Kopf, von dem kaum mehr als ein mit papierähnlicher Haut überzogener Schädel übrig geblieben ist, ein Auge auf. Das Auge ist im Zentrum bläulich und milchig trüb an den Rändern. Und feucht.
Praiala holt tief Luft.
Der Mund der Gestalt geht auf. Die Überreste einer Zunge kommen zum Vorschein, nicht größer als die Schwanzflosse eines kleinen Fischs.
Beide Gestalten bewegen sich nun auf ihren Stühlen. Sie beleben sich immer mehr, und ihre zunächst kaum wahrnehmbaren Zuckungen werden zu wirren Bewegungsabfolgen. Sie hört das Schaben von altem Stoff und das Knacken von Knochen in ihren Gelenken. Sie haben Angst. Oder bewegen sie sich so hektisch hin und her, weil sie einfach nur aufgeregt sind?
Und dann steht die alte Frau direkt vor den beiden sitzenden Gestalten, schirmt sie ab, streckt beide Arme aus und schiebt Praiala und Zhandukan mit ihren kleinen Händen von ihnen fort. Ihre schwarzen Augen starren über Praialas Schulter in Zhandukans Gesicht, und es liegt so viel Hass und Abscheu in ihnen, dass man diesen Blick kaum ertragen kann.
Sie nimmt ihre Hand von Praialas Bauch, gegen den sie gedrückt hat, und greift blitzschnell unter ihre schmuddlige Schürze, und als die mit Leberflecken übersäte Faust wieder zum Vorschein kommt, ragt etwas Dünnes und Scharfes und Glänzendes daraus hervor. Praiala schaute es an. Es ist eine schwarz angelaufene uralte Klinge, nur wenige Zentimeter von ihrem Unterleib entfernt. Das Messer ist dünn wie eine Feder und sieht aus, als gehöre es in ein Museum oder wäre dem Stillleben eines geisteskranken Meistermalers entsprungen. Sie macht eine drohende Bewegung damit auf sie zu.
Hinter sich hört sie schwere Stiefel näher kommen. Und dann dröhnt Baars laute Stimme durch den Raum. Zhandukan versucht, Baar zu besänftigen. Dann wendet er sich an die alte Frau, wird lauter, spricht schneller und wütender. Diese wiederum reißt den Mund so weit auf, dass ihre wenigen schwarzen Zähne zu sehen sind, und faucht Zhandukan an wie eine wilde Katze.
Praiala wird jäh beiseitegezerrt und taumelt rückwärts zum Eingang. Sie stolpert über den schmutzigen unebenen Holzboden und versucht, das Gleichgewicht zu halten. Die Laterne ruckt hin und her, verschwindet aus ihrem Blickfeld und leuchtet dann hinter ihr, flammt auf und rollt unter einen schrägen Stützbalken. In dem schwachen unsteten Lichtschein sieht es aus, als würden all die schmalen Gestalten, die vor der rechten Wand stehen, sich wie auf ein Kommando nach vorn beugen, um nach ihr zu greifen, weil sie sie bei sich behalten wollen.
Praiala wird von Baar gepackt, umgedreht und zum Ausgang gedrängt. Sie taumelt zum Treppenabsatz und spürt, wie sie einen Schlag auf den Kopf bekommt. Aber sie bräuchte wirklich keine Aufforderung mehr. Ohne zu zögern, springt sie die Stufen hinunter, rutscht, stolpert und fällt über die eigenen Füße, bis sie schließlich am Ende der Treppe auf den Knien landet.
Dort hält sie inne und redet vor sich hin, spricht mit sich selbst. Und merkt gar nicht, was sie da tut.
Hazitai taucht vor ihr auf und sieht genauso verängstigt aus, wie sie sich fühlt.
Sie versucht aufzustehen, ist aber so aufgeregt und zittrig, dass sie in ihrer Panik vornüber fällt und auf dem Gesicht landet. Sie knallt mit der Stirn auf den Boden und rutscht mit ihrer geschwollenen Nase darüber. Kleine Knochensplitter verschieben sich in dem entzündeten Gewebe, ihre Augen verdrehen sich, bis nur noch das Weiße zu sehen ist, ihr Magen krampft sich zusammen, die Schmerzen sind unerträglich. Einige Sekunden lang fällt sie in Ohnmacht, liegt mit dem Mund auf dem Fußboden, erwacht wieder und hält sich das schmerzende Gesicht mit den Händen, die noch immer gefesselt und kaum zu benutzen sind.
Über ihr wird laut geschrien: Baar und Zhandukan. Und noch etwas anderes ist zu hören. Etwas, das noch viel beunruhigender klingt. Ein tiefes kehliges Knurren, das sich zu einem Blöken entwickelt. Es klingt nicht wie eine Stimme. Es klingt überhaupt nicht wie etwas, das aus dem Mund eines Menschen kommen könnte. Und es vermischte sich mit einem Strom von Worten, die sich völlig verdreht anhören und von unendlicher Qual zeugen. Schon beim bloßen Zuhören wird einem klar, dass der Sprecher die Grenze zur Hysterie bereits überschritten hat. Es muss wohl die Stimme der alten Frau sein.

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Post by Idrasmine » Mon Jan 21, 2019 8:17 am

"Jetzt nimmst du uns endlich ernst, hm?" Baar steht über Praiala und schüttelt ernst den Kopf, als wäre er schwer enttäuscht.
Praiala schaut ihn aus ihrem Bett heraus an, durch das Auge, das noch intakt geblieben ist. In ihrem Mund spürt sie Splitter von Zähnen, die zu Bruch gegangen sind, als sie aufs Gesicht gefallen ist. Sie fühlen sich an wie Sandkörner. Aber seltsamerweise hat sie überhaupt keine Zahnschmerzen.
Baar hat Zhandukan nach draußen geschickt, damit er sich beruhigt. Als sie von oben heruntergekommen sind, hat Baar ihn angebrüllt. Er hat ihm sogar ein paar Ohrfeigen verpasst, direkt vor Praialas Zimmer, und ihn dann die Treppe hinuntergeschubst. Hazitai war dem bockigen Zhandukan kleinlaut nach draußen auf die Wiese gefolgt. Praiala kann sie jetzt durch das Fenster hören. Stellvertretend für Baar schimpft sie den Freund aus, der es mürrisch über sich ergehen lässt.
Baar beugt sich über den Bettkasten, in den Praiala sich nach ihrem Sturz von der Treppe zurückgezogen hat, und bindet die Fußgelenke seiner Gefangenen mit einem neuen Lederband zusammen. Praiala leistet keinen Widerstand, sie hat keine Lust mehr auf weitere Faustschläge und Tritte, sie will nicht mehr gestoßen oder getreten werden. Aber sie fragt sich, ob sie diese braunen Lederriemen hier irgendwo gefunden oder mitgebracht haben. Vielleicht haben sie die Dinger ja schon einmal benutzt, um andere Menschen zu fesseln, die sich hier in der Brache verlaufen haben. Der Gedanke macht sie schwach und nervös, regt sie so sehr auf, dass sie beinahe hyperventiliert.
Die Schmerzen, die von ihrer grauenhaften Kopfwunde ausgehen, sind etwas zurückgegangen, aber das ist auch schon das einzig Positive. Ansonsten befindet sie sich in einer absolut jämmerlichen und bemitleidenswerten Lage, auf die sie keinen Einfluss hat.
Baar setzt sich auf das Fußende des Bettes. Er hat Schwierigkeiten, sich klar zu äußern, und keucht vor sich hin.
"So, jetzt weißt du Bescheid, Praiala aus Gareth. Jetzt weißt du, dass du nichts bist. Nur ein armseliger Wurm im Vergleich zu dem, was hier ist." Er deutet mit seinem langen Finger zur Decke. Dann sieht er zu dem kleinen Fenster als würde er sich fragen ob es schon Abend wird. Wieder wirft er Praiala einen aufgeregten Blick aus seinen kalten blauen Augen zu und sagt: "Sie kann sie rufen, verstehst du? Wir wissen, dass sie es kann. Und sie weiß, dass wir es richtig ernst meinen. Sie hat uns versprochen, sie zu rufen. Für uns. Und für dich, Praiala. Heute Abend werden wir es wieder versuchen."
Baar verzieht sein Gesicht zu einem dämonischen Grinsen und streckt die dunkelrote Zunge heraus. "Du darfst dich wirklich glücklich schätzen. Heute Abend noch wirst du eine echte Göttin kennenlernen. Und du wirst die wahre Bedeutung des Wortes Blutrausch erfahren. Du hast mir wirklich verdammt viel Ärger gemacht. Aber wenn alles vorbei ist, werden wir alle sehr glücklich sein. Mach deinen Frieden mit deinen zwölf Göttern, Praiala. Schon bald wirst du deine Freunde wiedersehen, glaub mir."
Baar steht auf und geht.
Praiala starrt eine ganze Weile ins Leere, unfähig irgendetwas in ihrer Umgebung genauer zu fixieren. Über sich im Obergeschoss hört sie gelegentlich die kleinen Füße der alten Frau umhertrippeln. Seit dem Streit ist sie noch nicht wieder heruntergekommen. Offensichtlich liebt sie diesen schrecklichen Raum und die Wesen dort oben. Aber Praiala weiß, dass sie keine zehn Pferde mehr hinaufbringen würden.
Nach einer Weile beginnt die Alte zu weinen. Zwischen den Schluchzern spricht sie in ihrer uralten trällernden Sprache mit den Wesen, die sich in der staubigen Dämmerung um sie herum befinden. Praiala kann nicht sagen wieso, aber sie empfindet große Sympathie für sie. Und dann spürt sie, wie auch ihr Tränen über das Gesicht laufen.
Der Wind zerrt an den bräunlichen Vorhängen des kleinen Fensters, und Wolken dämpfen das blasse Sonnenlicht. Um sie herum wird es dunkler, und auch ihre Gedanken werden immer düsterer. Nun beweint sie sich selbst, ihre Gefährten, ihre Familie, und ihr Herz quillt über vor dieser tiefen Traurigkeit, die die ganze Welt durchdringt und alle, die in ihr leben.

Zwischendurch kommt sie in ihrem engen stinkenden Bett wieder zu sich und erkennt, dass sie trotz aller Schmerzen und aller Qualen, oder vielleicht gerade deswegen, ihr Glaube nicht im Stich gelassen hat.
Eine innere Ruhe erfasst sie. Das Wissen, dass sie ihr ganzes Leben für die richtige Sache gekämpft hat gibt ihr Mut.
Während andere Priester sich der Predigt und der Ermahnung der Gläubigen verschrieben haben, war es für sie selbst immer wichtiger das Wort des Götterfürsten durch ihre eigenen Taten sprechen zu lassen. All die Ungerechtigkeit der Welt würde sich durch Predigt allein nicht ändern, nicht schnell genug um das Leid derer zu beenden die es ertragen müssen.
Das war immer ihr Antrieb gewesen und der Sonnenstrahl Praios hatte sie geleitet. Und hier an diesem dunkelsten aller Orte wo sie glaubte ihn nicht mehr sehen zu können, wird ihr klar, dass der Kampf gegen das Chaos und die Ungerechtigkeit, Auge in Auge mit dem Bösen, ihre Bestimmung ist.
Diese kranken Jugendlichen mögen sie gefesselt haben, ihre Wunden mögen ihr unsägliche Schmerzen bereiten, aber der Tod ist nicht das Ende. Der Herr Alverans würde sie zu sich rufen.
Inbrünstig beginnt sie zu beten, nicht für sich selbst, nicht um Erlösung, sondern für die Seelen derer die hier in der Brache Opfer jener unbeschreiblichen Gotteslästerung geworden sind. Das was hier in der Vergangenheit geschehen ist und solche schrecklichen Dinge hinterlassen hat, muss in Worte gefasst werden. Es tut ihr gut zu beten. Auf diese Weise kann sie das Gefühl unendlicher Trauer und Verzweiflung bewältigen.
Irgendwann beginnen Zhandukan und Baar draußen unter ihrem Fenster wieder ihre eigene Musik zu spielen. Nun kann sie die alte Frau über sich nicht mehr hören. Die Jugendlichen grölen laut mit und Praiala glaubt in etwa sechs Stimmen zu hören. Sie trinken wieder ihren selbstgebrannten Schnaps, das kann sie an den dämlichen kichernden Lauten erkennen, die sie ab und zu von sich geben. Und so geht das alles einfach weiter. Es ist schon beinahe langweilig, weil es so vorhersehbar ist. Das Böse, so entscheidet sie, ist unvermeidlich, unbarmherzig und vorhersehbar. Vielleicht auch eine große Inszenierung, so viel will sie ihnen noch zugestehen, aber vor allem seelenlos.
Sie streicht mit dem Handrücken ganz vorsichtig über ihre Nase. Es ist hoffnungslos, sie kann sich nicht mal die Nase putzen. Blutiger Rotz läuft heraus. Sie lässt ihren Kopf auf das graue Kopfkissen zurückfallen und schliesst das eine Auge, das ihr noch geblieben ist, nachdem das andere zugeschwollen ist. Ganz ruhig liegt sie auf dem stinkenden Schaffell, ohne ein Geräusch zu machen und wartet darauf, dass das Tageslicht allmählich verblasst und der Himmel dunkel wird. Um es endlich hinter sich zu bringen.
Und während dieser endlos langen Stunden ist sie allein mit ihren Gedanken und quält sich damit, sich immer wieder vorzustellen wie sie vielleicht hätte entkommen können.
In dem Moment, als sie Zhandukan mit dem Krug außer Gefecht gesetzt hatte, hätte sie auch Hazitai erledigen müssen. Dann hätte sie sie nicht an den Haaren ziehen und ihre Kopfwunde aufreißen können. Sie hätte schneller und härter mit ihr umspringen müssen. Sie stellt sich vor, wie sie den Kampf erneut aufnimmt und diesmal siegreich daraus hervorgeht. Wie sie die Treppe hinunterstürzt und eins der Messer in die Finger bekommt oder sogar die Armbrust.
Vielleicht hätte sie in dem Moment, als sie ihr die Leiche des armen Quin zeigten, einfach in den Wald rennen sollen. Wenn sie in den Wald gerannt wäre, hätte sie sich irgendwo verstecken und später wegschleichen können. Aber diese Möglichkeit ist ihr nun auch genommen worden. Stattdessen ist sie eingeschlafen, hat von ihrem eigenen Tod geträumt, und nun ist sie an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Diese ganze Situation wirkt wie der Teil eines schrecklichen schicksalhaften Plans, als hätte die Vorsehung sie hierhergelockt, um sie zu opfern. Genau so, wie Baar es gesagt hat.
Aber selbst wenn es ihr gelungen wäre zu flüchten, wenn sie es geschafft hätte, diesen grässlichen Turm hinter sich zu lassen – was dann?
Sie flucht und schimpft auf sich selbst. Schluchzt auf. Zuckt zusammen.
So sieht das jetzt also aus. Der Gedanke lastet schwer auf ihr, bringt aber auch eine Erleichterung mit sich, wie man sie verspürt, wenn man sich mit einer schmerzhaften unausweichlichen Wahrheit abgefunden hat. Wenn übertriebene Hoffnungen und vergebliche Anstrengungen enden und sich nur als Verschwendung von geistigen und seelischen Kräften erwiesen haben. Alle Sehnsüchte und alles Verlangen und alle Ängste sind verbraucht. Schon sehr bald wird alles ganz einfach vorbei sein.
Ihr ist genau das widerfahren, was auch anderen passiert. Vielleicht ist das hier eine Nummer zu wahnsinnig und irrwitzig, aber dennoch ist es ihre ganz persönliche Tragödie, die sie nun hinwegfegt, ihr ganz eigenes Schicksal. Was anderen auf ganz normale Weise widerfährt, das geschieht ihr zufällig auf besonders extreme Weise hier draußen. Das Ende könnte sie auch an einem beliebigen anderen Ort ereilen, hier ist es einfach nur zerstörerischer und brutaler. Das Opfer einer Gewalttat kann man überall auf Dere werden. Selbstaufgabe und fehlender Ehrgeiz, die Schadenfreude über den Niedergang anderer – all das hat sie schon früher gesehen, überall in Aventurien. Hier ist es nur besonders ausgeprägt. Aber an sich ist es nichts Besonderes. Es liegt den Menschen im Blut. Lass ein paar Naturkatastrophen stattfinden, lass die falschen Leute an die Macht kommen, lass einen Krieg außer Kontrolle geraten, eine Seuche ausbrechen oder Dere auf sonst eine Art vergiftet und unbewohnbar werden, Hungersnöte kommen … und schon beginnt wieder das große Schädeleinschlagen. Immer wieder. Der Weltenbrand. Genau das ist das Chaos, das Baar anstrebt. Je früher, desto besser, am liebsten gleich hier, auch wenn das bedeutet, dass es mit seiner eigenen kläglichen, irregeleiteten und obsessiven Existenz anfängt.
Wirklich verrückt, dass sie sich immer wegen ihrer Außenseiterrolle im Klerus als etwas Besonderes gefühlt hat, dass sie sich immer als Freund der Hilflosen, der Unangepassten und Gescheiterten gesehen hat. Sie ist nun wirklich die Allerletzte, die man fertigmachen muss. Aber solche Verlierertypen wollen ganz einfach nur den Platz tauschen mit jenen, die in der Hierarchie über ihnen stehen. Und das macht die ganze Geschichte nur noch hoffnungsloser.
"Scheiß drauf."
Ihre eigene Schwäche, ihre Fehler und ihre Unzulänglichkeiten scheinen kaum der Rede wert im Vergleich zu denen dieser jungen Leute hier. Sie kann ja noch nicht mal richtig böse sein. Aber diese Typen haben es geschafft. Am liebsten würde sie laut auflachen, doch gleichzeitig wird ihr bewusst, dass sie womöglich gerade dabei ist, den Verstand zu verlieren. Endlich. Das wird aber auch Zeit. Wofür war der überhaupt gut gewesen?
Vielleicht hat sie einfach nur ein schlechtes Karma hierhergeführt. Damit ihr die Wahrheit beigebracht wird, auf die harte Tour. Sie grinst vor sich hin und bleckt dabei ihre blutverschmierten Zähne.
"Ich wollte doch bloß deinem Ruf folgen. Ich habe mich doch nur beworben weil ich in den dunklen Abgrund geblickt habe, dort wo dein Licht nicht hinfällt. Ich habe sie alle bezwungen, Dämonen, Vampire, all die schwarze Hexerei, Ketzerei und Häresie. In deinem Namen wollte ich dass sie mich aussenden, die Frevler auszuforschen und zur Anklage zu bringen. Die göttliche Ordnung zu bewahren durch meine Taten und damit die Hilflosen zu schützen. Zeige mir den Weg aus der Dunkelheit. Sei mein Lichtstrahl in der Finsternis. Befreie mich und gib mir die Kraft diese Frevler in deinem Namen für ihre Untaten zu strafen", spricht Praiala mit lauter Stimme zu ihrem Gott und zu den Gestalten dort oben in dem Turmzimmer über ihr, einfach zu allen, die ihr jetzt vielleicht zuhören. Sie will endlich frei werden von dieser Welt.
Sie schließt die Augen und versinkt in
Meditation
Liturgiekenntnis, Praios
MU
IN
CH
TaW
Mod.
15
15
15
16
-5
171:0
TaP*
Anmerkung: Die Erschwernis setzt sich wie folgt zusammen:
+3 Aus einer Notlage heraus
+7 Erfüllung ihres kirchlichen Auftrags
+0 Abstand zur letzten Regeneration
-15 Dämonenbrache (Gefahrenzone)

Wirkung: Die Geweihte regeneriert 11 KaP
. Selbst hier an diesen dunkelsten aller Orte kann sie die Wärme und das trostspendende Licht spüren.

Draußen ist der Klang schwerer Stiefelschritte zu hören. Baar. Nein, der wird sie jetzt noch nicht umbringen. Sie hat noch ein bisschen Zeit, um Ordnung in ihrem Kopf zu schaffen, bevor das Ende kommt. Sie beginnt, sich für sich selbst zu interessieren. Und mit einem Mal ist sie mit sich im Reinen.
Die Tür geht auf. Baar kommt herein. Er schwitzt heftig, seine Schminke verläuft auf seinem Gesicht und tropft auf seinen Bart. Seine Hände sind rot.
Hinter dem hünenhaften Jungen tritt die alte Frau ins Zimmer. Sie hält ein Tablett in der Hand. Darauf stehen ein neuer Holzkrug und ein hölzerner Becher, aus dem es dampft. Der Geruch von Fleisch und Sauce dringt in Praialas Nase und Rachen und lässt sie laut japsen vor Hunger.
Die alte Frau stellt das Tablett neben dem Bett ab. Praiala läuft das Wasser im Mund zusammen.
"Es wird Zeit, was zu essen, Praiala." Baar nimmt den Teller in Augenschein und verzieht angewidert das Gesicht. "Ich hätte dir etwas Besseres gewünscht, meine Liebe. Das ist nämlich deine Henkersmahlzeit."
"Du kannst das Ganze doch noch verhindern."
"Das geht nicht mehr."
"Dann lass mich doch laufen. Gib mir eine Chance."
Baar grinst abfällig. "Mach es mir nicht so schwer. Ich bin nicht so ein Schwein wie Zhandukan. Ich möchte dich nicht verhöhnen.
Aber jetzt iss erstmal. Dann machen wir dich bereit."

Baar geht aus dem Zimmer und lässt sie mit der alten Frau allein.

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