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by Idrasmine » Thu Jan 17, 2019 10:36 am
"Praiala, ich bemühe mich wirklich sehr, dich am Leben zu halten." Baar sieht sie lächelnd an. Seine Augen leuchten hell und blau in dem diffusen Licht, das durch das kleine Fenster fällt. Baar ist gut gelaunt, richtig gut. Er grinst fröhlich vor sich hin und wirft seine schwarze Mähne lässig über die Schulter. Er macht überhaupt keinen verbissenen oder besonders ernsten Eindruck mehr. Fast scheint es, als habe die Ankunft von Praialas abgeschlachtetem Gefährten die Spannung beseitigt, die in der Luft gehangen hatte. Außerdem ist er betrunken. Seine schwere Armbrust hat er neben der geschlossenen Tür gegen die Wand gestellt.
Bevor Baar gekommen ist, ist Praiala stundenlang ganz ruhig dagelegen. Sie hat gehört wie mehrere Leute angekommen sind. Ihre Stimmen waren im Erdgeschoß deutlich zu hören. Offenbar noch mehr von diesen kranken Jugendlichen.
Sie kann nicht mehr durch ihre Nase atmen, die sich anfühlt, als sei sie auf die vierfache Größe angeschwollen. Ihr Kopf wiederum ist aufgeplatzt wie eine reife Frucht. Die Augen sind geschwollen, durch das eine kann sie so gut wie nichts mehr sehen. Ihr ganzer Körper ist übersät mit winzig kleinen roten Wunden, die von den Bissen der Flöhe stammen, die sich in diesem grässlichen Bett breitgemacht haben. Zahllose Schnittwunden und Stiche sind an ihren Gelenken und Unterarmen zu sehen, außerdem hat sie sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Sie stinkt erbärmlich. Sie ist durstig. Sie hat Hunger. Sie ist völlig am Ende. Und sie merkt, dass ihr das alles völlig egal ist.
Trotzdem verachtet sie sich dafür, weil sie erleichtert ist, dass der riesige Kerl gut gelaunt ist. Sie findet es zum Kotzen, Baar gegenüber auch noch eine gewisse Dankbarkeit zu empfinden, weil er sie vor den anderen beiden beschützt hat, seit sie sie aus dem Wald hierhergebracht haben.
Aber warum schützt er mich?
Sie ist es leid, so hilflos zu sein. Sie ist krank und müde, und gleichzeitig hat sie genug davon, krank und müde zu sein und in diesem verdammten Zimmer herumliegen zu müssen, in diesem stinkenden Bett. Ihre Ängste und Schmerzen und das ganze grauenhafte Elend, das sie heimgesucht hat, noch bevor die drei sie fanden, hat sie schon zu Tode erschöpft. Aber nun hat sich herausgestellt, dass das kleine bisschen Hoffnung auf Rettung, das sie erfüllt hatte, als sie in diesem Zimmer aufgewacht war, vergeblich war. Die Hoffnung, diese jungen Leute hier würden Mitleid empfinden angesichts einer Frau, die verwundet und verwahrlost der Dämonenbrache entkommen war, würden sie als einen Mitmenschen erkennen und gehen lassen. Die andere, genauso infantile und lächerliche Hoffnung auf Hilfe von außerhalb ist ebenfalls verpufft. Hoffnung ist nur noch etwas, das sie müde macht. Ihr ständiges Auf und Ab inmitten dieser fürchterlichen Kopfschmerzen, ihr ständiges Kommen und Gehen, wenn sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht oder wieder in sie hineinfällt, aus einer grauenhaften Welt in die nächste, nicht weniger schlimme wechselt, ist schmerzhafter und hassenswerter als das Ertragen aller sadistischen Quälereien dieser verblödeten Heranwachsenden.
Sie geht jetzt davon aus, dass ihr Ende ohnehin sehr bald kommen wird.
Dann kann sie endlich aufhören, sich Sorgen zu machen. Vorher darf sie vielleicht noch einmal darüber nachsinnen, was sie an diesem Leben wirklich vermissen und wem sie dort draußen in der Welt fehlen wird. Für sie ist klar, dass sie sich nur noch eins wünscht: Dass dies alles möglichst schnell vorbeigeht. Das Ende soll bald kommen. Vielleicht kann sie es ja beschleunigen. Sie lächelt, und ihre aufgesprungenen Lippen schmerzen dabei.
"Deine Tattoos sind beschissen widersprüchlich, weißt du das, Baar?"
Ihre Stimme klingt belegt, ist kaum wiederzuerkennen. Aus ihrer Nase läuft Blut in die Kehle. Sie muss husten, und ihre Brust schmerzt. Sie richtet sich auf und spuckt alles aus, was in ihrem Mund ist. Sie schaut Baar an, und plötzlich spürt sie einen derartigen unbändigen Hass auf ihn, dass ihre Gedanken sich wieder aufklaren, als ihr Ekelanfall vorüber ist.
Der riesige Kerl hört auf zu grinsen. Er schüttelt den Kopf, sein weiß geschminktes Gesicht scheint erstaunt und amüsiert zugleich.
Praiala fährt fort. "Ihr verachtet die Zwölfgötter, hab ich Recht? Ihr habt also einmal einen Tempel angezündet. Weil ihr die Zwölfe hasst. Ihr tragt ein Heptagramm auf der Brust, ein anderes auf der Schulter und das Zeichen des Gottes ohne Namen auf eurem Bauch, falls irgendjemand noch mehr Beweise haben will, dass ihr eisenharte kompromisslose Dämonenanbeter seid."
Baar lacht und schlägt sich auf die Schenkel, dann nimmt er einen Schluck aus seinem Trinkhorn.
Praiala hört nicht auf zu reden. "Das bedeutet aber, dass ihr irgendwann einmal an den Namenlosen geglaubt habt. An den Dreizehnten, Baar. Andererseits habt ihr auch Tätowierungen, die arkane Motive zeigen. Zahyad-Glyphen zum Beispiel und so einen Scheiß. Du hast dir solche Zeichen auf die Knöchel tätowieren lassen. Das sind Zeichen zur Dämonenanrufung. Du trägst auch eine Darstellung Calynarias, wie ich sehe. Das ist aber etwas ganz anderes als der Namenlose. Also ich gehe mal davon aus, dass ihr beiden, du und Zhandukan, zurzeit total auf Calynaria abfahrt, richtig? Was aber bedeutet, dass ihr nicht an den namenlosen Gott glauben könnt, denn er duldet keine Anbetung anderer Götter. Also war das Zerstören dieses Tempels eine völlig sinnlose Angelegenheit, oder? Ein Tempel ist eine Stätte eines jahrhundertealten, tief empfundenen Glaubens, den ihr noch nicht einmal ansatzweise verstehen könnt, wie ich annehme. Ich habe viele Tempel gesehen. Die meisten sind wunderschön. Sie sind angefüllt mit Symbolen eines Kultes, der viel länger existiert als diese Absurdität, die ihr hier vom Stapel lasst. Jetzt habt ihr euch ja anscheinend schon wieder etwas neuem verschrieben. Aber das war ein Ort, an dem einfache Menschen Trost fanden. Sie gehören zur Kultur eures Landes, zu eurer Geschichte. Tut mir leid, dass ich jetzt klinge wie deine Mutter, Baar, aber ehrlich gesagt bist du nichts weiter als ein Vandale. Ein Arschloch eben."
"Praiala, ich kann dir ganz genau …"
"Also, an was glaubt ihr denn nun? Worauf wollt ihr eigentlich hinaus? Warum bin ich hier? Ich frage das, weil ich es aus meiner Perspektive einfach nicht erkennen kann. Ehrlich gesagt, habe ich auch keine Lust mehr, mich besonders anzustrengen, um herauszufinden, was euch beknackte Vollidioten antreibt. Ich glaube, ihr wisst überhaupt nicht, was ihr tut. Keiner von euch. Ihr seid bloß eine Gruppe beschissener kleiner Dummköpfe, die ein paar Grenzen zu viel überschritten haben. Und jetzt seid ihr so jenseits von allem und völlig im Arsch, dass es nicht mal mehr für euch irgendeinen Sinn ergibt. Also los. Tu’s doch einfach. Bring es hinter dich, du dummes bescheuertes Arschloch."
Baar hebt seinen riesigen Kopf, sieht zur Decke und lächelt. Dann nickt er. "Siehst du, das ist genau die Einstellung, über die ich mit dir reden möchte, Praiala. Wenn du so redest, bringst du dich nur in Schwierigkeiten. Aber weißt du was? Ich mag deine Art. Klar, du verstehst überhaupt nichts von unserem … Glauben. Aber das geht in Ordnung. Du bist genauso blind für die Wahrheit wie die meisten anderen. Also werde ich dich nachsichtig behandeln. Weil du eine Schlafende bist. Aber bald schon, denke ich, wirst du aufwachen."
Baar lehnt sich mit seinem breiten Rücken gegen die fleckige Wand. Er lächelt wehmütig, was überhaupt nicht zu seiner idiotischen aufgemalten Maske passt, dann seufzt er. "Weißt du was, Praiala? Es fehlt mir sehr, dass ich die Zwölfe nicht mehr bekämpfe. Immerhin haben die richtigen, echten Zwölfgöttergläubigen den Mut, mich zu verurteilen. Entweder gehörst du zu uns oder du bist verdammt. In dieser Hinsicht kann man viel von ihnen lernen. Das ist wahr. Man kann lernen, wie man das Absolute verteidigt. Es ist reiner Faschismus. Ich mag ihre Art." Er hebt seine riesigen Hände und schüttelt den Kopf, als wäre ihm gerade eine überraschende Erkenntnis gekommen. "In manchen Dingen hast du nicht ganz Unrecht. Zum Beispiel, wenn du annimmst, dass wir Tempel angezündet haben. Den letzten sogar in der Garether Altstadt direkt vor der Nase dieser dreckigen Spießbürger. Ich sehe nicht ein, warum ich das bereuen soll, aber das ist nur die eine Seite. Aber wie auch immer, es gibt noch Orte, wo wahre und viel ältere Kulte existieren. Zum Beispiel hier."
Baar lässt sich langsam auf den Boden sinken und lächelt sehnsüchtig. "Ich wusste schon mein ganzes Leben davon, verstehst du? Ich komme aus dieser Gegend. Ein Stück weiter südlich, nahe Silkwiesen, nicht weit entfernt. Dies ist meine Heimat. Ab und zu komme ich hierher zurück, um in eine andere Welt einzutauchen. Um zu entkommen. Um dorthin zu gehen, wo es diese beschissenen Priester nicht gibt, keine Regeln, keine Praioten oder sonstige autoritäre Scheißkerle." Er spuckt aus und trinkt aus seinem Horn. Trotz der vielen konkurrierenden Ausdünstungen in diesem Raum und dem Zustand ihrer Nase kann Praiala den unangenehmen Geruch von Baars Atem sogar in ihrem Bettkasten wahrnehmen.
"Wir sind erwacht, Praiala. Und wir wollen, dass unsere Brüder ebenfalls erwachen. Wir werden ihnen zeigen, wie das geht. Hier in der Brache. Und zwar mit unserer Musik. Das wird etwas ganz Besonderes, Praiala. Wir arbeiten an einer ganz intensiven Erfahrung, meine Liebe. Wir werden die Stimme der alten Göttin sein. Erhebt euch. Erhebt euch, wird sie sagen."
Er deutet mit dem Trinkhorn auf Praiala. "Wahre Magie, verstehst du? Deshalb kommen wir hierher. Isidian und ich, wir haben uns entschlossen, den anderen zu zeigen, was wahre Magie ist. Und ich habe nur die Stärksten mitgenommen. Solche, die uns bewiesen haben, dass sie böse genug sind. Dass sie … kompromisslos sind. Das ist ein Wort, das mir gut gefällt. Sie haben bewiesen, dass sie bereit sind, zu brandschatzen und zu töten. Ihnen sind Blut und Boden heilig."
Baar bricht in Gelächter aus. "Das ist vielleicht ein bisschen viel, oder? Zhandukan! Der ist nicht gerade intelligent, das denkst du doch, oder? Er hat schon Tiere getötet, als ich ihn in Eschenrod kennengelernt habe. Da gibt’s kaum noch Haustiere. Wenn ich zu ihm sage, entweihe dieses Grab, dann tut er das. Ganz einfach. Und was Tempel betrifft …" Baar macht ein Geräusch, das eine Explosion darstellen soll, und deutet mit den Händen aufflammendes Feuer an. "… bring einen Priester für mich um, hab ich ihm mal gesagt, als wir betrunken waren." Baar nickt und grinst, als würde er sich an eine besonders absurde und triviale Episode seiner Rebellion erinnern. "Und er hat es einfach getan."
Er blickt wieder ernst drein und nimmt eine gebieterische Haltung ein. "Um ein Magier zu sein, muss man lernen, wirklich böse zu sein, Praiala. Man muss in der Lage sein, sich in einen Blutrausch hineinzusteigern. Weißt du eigentlich, dass du wirklich Glück hast, dass ich dir das alles erzähle? Du bist der erste Mensch, der das alles erfährt und der noch am Leben ist. Verstehst du? Okay, du musst nicht darauf antworten. Aber ich werde dich trotzdem überzeugen. Wir haben neunundzwanzig Leute umgebracht. Darunter zwei Priester."
Baar grinst und trinkt noch einen Schluck. "Nicht schlecht, oder? Wir sind die schlimmsten Massenmörder, die Garetien je gesehen hat, nur weiß das bisher noch keiner. Das ist das Beste daran. Sie glauben nicht, dass so etwas im Herz des Reiches passieren kann, aber wir gehören zu den Ersten, die aufgewacht sind. Isidian und ich, wir sind Revolutionäre! Wir beleuchten den Pfad, den alle gehen werden. Und wir werden noch viel weiter gehen."
Er trinkt noch etwas. "Und Calynaria wird kommen, meine Liebe. Gib dich da keinen falschen Hoffnungen hin. Es wird viele Tote geben. Und es wird Blutopfer geben. Wir werden unsere Rache ausüben. Du wirst sehen. Du wirst es sehen."
Ab und zu während Baars Bekenntnisrede verliert Praiala ihr plötzlich aufgekommenes, heftiges Bedürfnis diesen Mann zu provozieren. Ihr ist nicht klar, was sie diesen jungen Leuten eigentlich glauben soll, oder was sie von alldem überhaupt noch für wahr ansehen kann. Aber sie bezweifelt sehr, dass Baar gelogen hat, als er von dem sprach, was die Gruppe getan hat, bevor sie hierhergekommen sind. Gerade während der Wirren des Orkensturms mag es nicht einmal aufgefallen sein, dass es diese Bande von Jugendlichen war und nicht die Schwarzpelze.
Praiala bricht in Gelächter aus. Irgendwas musste sie ja tun, um ihre Angst zu bezwingen. Wenn sie ihre Angst schürt, würde ihr das überhaupt nicht helfen. Das hat noch nie etwas gebracht. Sie hat einfach keine Zeit mehr für irgendwelche Ängste. Sie sind völlig nutzlos. Angst ist nichts weiter als ein ständig wiederkehrender Überlebensinstinkt, und für sie ist das Überleben sowieso nicht mehr möglich. Es wird Zeit, etwas ganz anderes auszuprobieren.
Baar starr sie böse an. Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte, das kann Praiala deutlich sehen. Diese jungen Leute wollen gefürchtet und verehrt werden, so wie es sich alle morbid veranlagten Heranwachsenden wünschen.
"Was ist denn passiert, Baar, hm? Was ist mit dem netten kleinen blonden Jungen passiert, der du zweifellos mal gewesen bist? Ich wette, du hattest mal so einen tollen Strickpulli mit Tieren vorn auf der Brust."
"Red nicht so einen Scheiß, Praiala. Du bewegst dich sowieso schon auf ganz dünnem Eis, meine Liebe."
"Du warst ein gesunder, gebildeter Abkömmling der Mittelklasse, Baar. Ein Kind, das in einem Landstrich aufgewachsen ist, das alle Welt beneidet. Weil man hier so gut leben kann. Und was ist deine Entschuldigung? Du wurdest verzogen, hast dich gelangweilt und das hat dich wütend gemacht. Und dann bist du zu weit gegangen. Und was ist aus dir geworden? Ein Brandstifter. Ein Vandale. Ein Entführer. Ein Mörder. Und weiß der Geier, was sonst noch alles."
"Praiala, Praiala, Praiala. Du bist wirklich dumm wie ein Schaf. Du schläfst."
"Und deine Freundin hatte irgendein traumatisches Erlebnis, bevor sie dich kennengelernt hat. Sie muss in Behandlung, Baar. Sie ist total durchgedreht, Mann. Ich dachte zuerst, ich wäre hier bei ein paar pflegebedürftigen Schwachsinnigen gelandet, aber diese Verrückte spielt echt in einer anderen Liga. Und vielleicht war Zhandukan ja auch schon längst durchgedreht, als du ihn getroffen hast. Ja, wahrscheinlich war es so. Das sind einfach zwei asoziale Außenseiter, die glauben, du seiest so eine Art Messias. Das ist nicht gerade der Stoff, aus dem man Revolutionäre macht. Das Ganze ist doch jetzt schon eine traurige und völlig sinnlose Geschichte."
Baar schüttelt enttäuscht den Kopf. "Praiala, du sprichst ja im Schlaf."
"Weil ich nicht das große Ganze sehen kann, Baar. Weil du und der Klotzkopf und die Prügelschlampe hier draußen was am Laufen haben, was normale Menschen ganz einfach nur als Sadismus und Mord bezeichnen würden. Deshalb bin ich ein schlafendes Schaf, weil ich nicht in der Lage bin, das große Bedeutsame an euren kranken verbrecherischen Aktionen zu sehen. Das werde ich ganz bestimmt nie können. Wenn ihr mich dann irgendwann umbringt, dann bin ich … na ja, einfach tot, aber ihr seid feige Mörder. Das ist alles, mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Es hat alles gar keine Bedeutung. Da ist überhaupt keine Magie oder irgendwas Besonderes dabei. Es ist einfach nur schäbig, erbärmlich und kaputt und genauso krank wie ihr und die Vollidioten, die euch nachlaufen und sich auch die Gesichter anpinseln, weil sie gern Gespenster spielen."
"Genau! Du triffst den Nagel auf den Kopf!" Baar grinst, steht auf und tritt an das Bett. Praiala zuckt unwillkürlich zusammen und verabscheut sich gleichzeitig dafür.
Baar hebt das Trinkhorn und gießt einen großen Schwall einer faulig riechenden Flüssigkeit über Praialas Mund. Sie schmeckt Apfelsaft und etwas, das wahrscheinlich Schnaps ist oder auch alchemischer Alkohol, und dann muss sie husten.
Baar setzt sich wieder auf den schmutzigen Boden. "Gut, oder? Ich glaube schon. Na, immerhin hast du schon kapiert, dass es hier um das große Ganze geht und alles zusammengehört. Es kommt nicht darauf an, dass wir die Zwölfe hassen oder die Bütteln oder die Schwuchteln. Das zeigt nur, dass wir es ernst meinen, ja. Aber du musst schon ein bisschen tiefer blicken, meine Liebe. Calynaria ist in uns erwacht. Und wir werden auf ihren Ruf antworten. Aber zu Anfang waren wir tatsächlich wie, äh … ja, wie Kinder, die etwas tun wollten, aber nicht wussten was und wie sie es tun sollten. Also haben war erstmal etwas anderes gemacht, verstehst du?"
"Nein."
Baar hebt die Hände, weil er offenbar das Gefühl hat, dass ihm die richtigen Worte fehlen. "Der Namenlose ist ein guter Ausgangspunkt, um das zu beschreiben, Praiala. Er ist ein guter Anfang, wenn man richtig böse werden will. Wenn man zeigen will, dass man auf die ganze Moral scheißt. Ich bin böse. Ich bin ein Anhänger des Namenlosen. Ich will Heiligtümer entweihen. Ich brenne sie ab. Ich töte. Das gehört dazu, wenn man sich von den anderen absetzen will, von den Schafen. Aber dann haben wir herausgefunden, dass es Calynaria ist, die in uns wirkt. Die große Göttin des Wandels. Das Blut unserer Vorfahren kocht in uns hoch. Wir dachten, es sei der Namenlose, aber das stimmt nicht. Es war Calynaria, die von uns verlangte, dass wir diese beschissenen Tempel der Zwölfe und den ganzen anderen Schrott zerstören, der überhaupt nicht hierhergehört. Wir sind Magier von Ash'Grabaal! Wir wurden in unserem eigenen Land, in dem unserer Vorväter, betäubt und eingeschläfert. Aber jetzt wachen wir auf. Wir werden auf die wilde Jagd gehen. Wir werden für Calynaria brandschatzen, wir werden töten, damit wir anschließend ganz erwachen können. Du siehst, es geht ums Erwachen. Das ist ein … äh … ein erster Schritt … die Ouvertüre. Wir machen den Weg frei für die alten Dinge, die vor langer Zeit begraben wurden. Wir werden eine neue Ordnung begründen. Um andere zu ähnlichen wilden Aktionen anzuregen. Verstehst du? Der Weltenbrand wird kommen, Praiala! Bald. Deshalb müssen wir jetzt schon damit beginnen, die Welt zu entweihen."
"Du hast nur Scheiße im Kopf, Baar."
Einen langen aufreibenden Moment lang sagt Baar überhaupt nichts, sondern starrt nur aus dem Fenster. Als er schließlich weiterspricht, ist der betrunkene Eiferer dem etwas nachdenklicheren Baar gewichen. "Ich hatte auch das Gefühl, hierhergelockt worden zu sein. Genau wie du. Das hat seinen Grund. Man kann es einfach nicht verleugnen. Das Schicksal hat uns hierhingeführt."
"Ich wollte bloß eine Nacht überstehen, Baar. Es hat überhaupt nichts mit deiner beschissenen Calynaria zu tun."
"Das siehst du aber ganz falsch." Baar wendet sich vom Fenster ab und wieder Praiala zu. "Du bist zur gleichen Zeit wie wir in den Wald gelockt worden. Du bist hierhergekommen, um diese schreckliche Erfahrung zu machen. Du hast es nur noch nicht gewusst. Aber wir sind alle hier, weil die wilde Jagd stattfinden wird. Die echte wilde Jagd. Die älteste Jagd, die es überhaupt gibt. Sie will einen Zeugen haben. Und ein Opfer. Deshalb hat sie uns alle angelockt. So wie es auch früher geschehen ist. Von allen Wegen, die durch diesen Wald führen, seid ihr ausgerechnet auf diesem Pfad gelandet. Das war ein großer Fehler, meine Liebe. Die Garether haben irgendwann mit den Opferungen und den wilden Riten hier in der Brache Schluss gemacht. Vor langer Zeit. Aber die alten Bräuche sind nie wirklich zum Erliegen gekommen. Und was einst hier drinnen gewesen ist, vor langer Zeit, musste einfach nur wiederbelebt werden, verstehst du? Die Jagd fand einst zur Winterpraioswende, Anfang Firun, statt, aber dieses Jahr hat sie schon früher begonnen. Und das war sehr schlecht für dich und deine Freunde, fürchte ich."
Baar schlägt sich auf die Brust. "Wir sind an diesen Ort gekommen, wo früher die wilde Jagd stattgefunden hat. Das hat was mit Magie zu tun, mit wahrer Magie. Ich kenne die Geschichten noch aus meiner Kindheit. Hier in diesen Wäldern hat es einen Kult gegeben, vor sehr langer Zeit als Gareth noch den Orks gehörte." Er starrt Praiala an. "Wir können nirgendwo sonst mehr hingehen. Wir haben alle Brücken hinter uns abgebrochen. Einige Leute sind sehr schlecht auf uns zu sprechen und suchen nach uns. Aber das ist Schicksal. Das Schicksal führt uns nach Hause. Das Schicksal hat uns keine andere Wahl gelassen, als hierherzukommen. Das ist die einfache Wahrheit."
Praiala schnaubt und fährt dann zusammen, als der Schmerz hinter ihren Augen aufflammt. Sie wischt sich die Tränen aus den geschwollenen Augen. "Das hat überhaupt nichts mit Schicksal zu tun. Ihr seid einfach nur auf der Flucht. Und ihr werdet gefasst werden. Irgendwann, das steht fest. Und meine Gefährten wurden tatsächlich von einem … unnatürlichen Ding getötet, das gebe ich gern zu. Aber eine Göttin war das bestimmt nicht."
Baar deutet zu Boden. "Das siehst du ganz falsch, meine Liebe. Sie weiß es. Und sie hat uns gesagt, dass die alte Jagd in diesem Jahr schon früher begonnen hat. Also sind wir losgegangen, um es uns anzusehen. Und sie hat uns etwas gezeigt, das so alt ist, dass du es kaum glauben kannst. Und dabei haben wir auch dich gefunden. Es gibt hier niemanden mehr, der eine Opferung durchführen kann, Praiala. Also nimmt sie sich das, was gerade kommt, verstehst du. Nimmt es sich einfach. Kapiert? So wie deine Freunde. Du und deine Freunde, ihr habt bewirkt, dass die Jagd früher beginnt. Aber es müssen noch Riten folgen, so wie es früher einmal gewesen ist. Sie hat es uns gesagt. Etwas muss ihr gegeben werden, Praiala. Jetzt wieder. Es muss der echten Göttin des verborgenen Königreiches geopfert werden. So wie es früher einmal war. Und so wird es wieder sein, jetzt wo wir hier sind. Verstehst du? Sie ist nämlich zu alt dafür. Deshalb kommen wir nun dazu. Um etwas zu geben. So wie andere früher etwas gegeben haben. Um Teil einer großen Wahrheit zu werden. Einer uralten Wahrheit. Um etwas zu geben und der Göttin näherzukommen. Der einzigen, die es wert ist, von uns verehrt zu werden. Es ist die … äh … Geste, die zählt. Es ist wie beim Tsatag, wichtig ist, dass man etwas gibt." Baar bricht in lautes Gelächter aus, so sehr amüsieren ihn seine Worte. Praiala sagt nichts.
"So wie es aussieht, wirst du geopfert. Vielleicht schon heute Nacht. Das hoffen wir jedenfalls. Wir kommen immer näher heran. Wir haben jetzt Kontakt aufgenommen. Und du liegst völlig falsch, denn unsere Göttin weiß, dass wir hier sind. Um das zu tun, was einst hier getan wurde. Niemand außer uns wird es tun. Niemand ist so kompromisslos. Außerdem gibt es hier oben sowieso niemanden, der sich darum kümmern könnte. Es ist alles Schicksal. Und das, was wir geben müssen, ist auch gekommen. Du, Praiala. Du bist im gleichen Moment auf der Bildfläche erschienen wie wir. Wenn das kein Zeichen ist."
Baar hebt die Hände und macht eine Handbewegung, die den ganzen Raum umfasst, den ganzen Turm, den ganzen Wald. "Dies hier waren die alten Magier. Die ersten Menschen hier. Aber bevor sie herkamen, gab es schon andere Dinge hier. Und die Magier haben denen, die schon vor ihrer Zeit hier lebten Tribut gezollt, damit sie bleiben durften. Um hier im Wald leben zu dürfen, Türme zu erbauen, zu lernen und mit ihrer Zauberei eigene Dinge zu erschaffen. Das war vor langer Zeit. Sie gaben der Göttin zu essen und zu trinken, und es ist ihnen gut gegangen. Sie gaben ihr Tiere, die sie zerreißen konnte, und der Wald wuchs und gedieh und schützte sie. Das ist die Lebensweise der Alten gewesen. Sie wurden zurückgedrängt, wurden gezwungen, sich in die Tiefe der Brache zurückzuziehen. Von den Garethern und den Priestern der Zwölfe." Baar schüttelt den Kopf, gibt sich verbittert und verzweifelt, dann blickte er wieder auf. "Sie haben ihr viele Namen gegeben hier draußen. Als ich noch ein kleiner Junge war, wurde sie in meiner Familie ›der Winterunhold‹ genannt, aber das ist kein wirklich guter Name, finde ich. Aber in diesen Wäldern ist sie eine Göttin. Eine sehr reale Göttin. Da kannst du dir sicher sein. Die Zwölfgöttergläubigen Heuchler und Speichellecker nennen sie eine Dämonin. Aber sie ist eine Göttin. Nur eben nicht ihre Göttin." Er zuckt mit den Schultern. "Dieser Ort ist heilig. Hier wird es zur Auferstehung kommen. Wir sind hergekommen, um die Musik für diese Auferstehung zu machen. Um ein Opfer darzubringen und dafür gesegnet zu werden. Um die Botschaft weiterzuverbreiten. Um die Gegenwart einer Göttin zu erfahren. So wie es unsere Vorfahren getan haben. Und du meine Freundin, bist besonders privilegiert. Du wirst sie sehen."
"Ich hab sie schon gesehen."
Baar nickt. "Ich beneide dich darum, meine Liebe. Und wir werden sie auch sehen, wenn sie kommt, um dich anzunehmen. Bald schon. Jetzt haben wir nämlich dich, Praiala. Jetzt haben wir etwas, das wir geben können. Verstehst du? So wie es sein soll. So wie es einst war. So wie Calynaria es gewünscht hat. Und sie wird zu uns kommen. Die Alte hat es versprochen, Praiala. Sie hat dich extra dafür gerettet. Das ist der einzige Grund, warum du noch ein bisschen länger leben durftest. Damit du unser Tribut sein kannst. Unser Blutzoll. Unsere Einführung in die alten Bräuche. Du bist der Beweis, dass wir es ernst meinen."
"Das ist keine Göttin, Baar. Du bist total auf dem Holzweg. Die Zwölfe sind der Wahrheit nähergekommen. Alles, was du getan hast, war völlig sinnlos. War absolut bedeutungslos. Hat keinen Zweck. Ich hab ihren Tempel gesehen, er ist total verfallen, Mann. Und die alten Steine sind überwuchert. Niemand kümmert sich um den alten Friedhof. Das ist alles längst vergessen, Baar. Es ist vorbei. Ausgestorben. Nur diese eine alte Frau ist noch übrig geblieben. Und die wird es auch nicht mehr lange machen. Und du bist viel zu gelangweilt und dumm, um hier für längere Zeit bleiben zu können. Also ist es eben vorbei. Es gibt keinen Kult mehr, der irgendeine alte, wilde, bösartige Bestie verehrt oder was immer das ist. Es gibt keine Opferungen mehr. Es wird nicht mehr gemordet. Das Ding, das du eine Göttin nennst, hat überhaupt keine Zukunft."
Baars Augen weiten sich und scheinen sogar für sein breites Gesicht viel zu groß zu sein. Seine Lippen beginnen zu zittern. Er ist betrunken, er wird angesichts von Praialas Verweigerungshaltung von seinen Gefühlen übermannt. Wieso kann diese Frau das nicht verstehen, wieso will sie nicht einlenken, warum kann sie nicht einfach glauben?
"Ihr werdet alle im Gefängnis landen", fährt Praiala fort. "Aber dann seid ihr wenigstens berühmt. Das ganze Streben nach Aufmerksamkeit wird sich ausgezahlt haben, was? Ich kann dir sogar ganz genau sagen welche Strafen das Gesetz für euch bereithält. Und ich bete, dass sie euch bald erwischen. Weil man euch und dieses üble Ding da draußen ausschalten muss … für immer. Das ist das Einzige, was ihr verdient."
"Du siehst das falsch, Praiala aus Gareth. Ich werde es dir beweisen. Ich werde es dir zeigen. Und dann wirst du ganz genau wissen, warum du hier sterben musst."