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by Idrasmine » Tue Dec 10, 2019 9:45 am
"Hazitai!"
Aus den oberen Stockwerken kommt nicht das leiseste Geräusch.
Was tun, was tun, was tun.
Munition. Praiala steigt über Baar hinweg und geht zurück in die Küche. Auf einer Komode erblickt sie eine lederne Bolzentasche. Wie viele Bolzen sind noch übrig? Neun. Die schwere Armbrust besitzt eine Winde um sie zu spannen. Aber Praiala weiß, wie lange sie dafür benötigen würde. So etwas dauert immer ziemlich lange. Sie gibt die Armbrust Hesindiane, die sich immer noch hinter dem kastenförmigen Küchentisch kauert.
"Hazitai! Baar ist tot. Deine Freunde sind tot. Kannst du mich hören?"
Stille.
Sie hebt ihren Waffenrock am Hals an und sieht durch den Ausschnitt ihrer Rüstung an ihrer Achsel hinab. An der Verletzung klafft das Fleisch auf wie ein lippenloser Mund. Das herausströmende Blut hat den wattierten Waffenrock rot verfärbt. Neues Blut auf altem Blut. Sie kann den Anblick nicht ertragen. Die Dolchklinge ist auch in ihren Unterarm gedrungen. Als sie den Arm abwinkelt, um diese Wunde in Augenschein zu nehmen, wird ihr schwindelig, kalt und übel.
Sie sieht die alte Frau an, und sie sieht sie an. Sie hockt noch immer in ihrem kleinen Bettkasten neben dem Herd. Und scheint noch etwas von ihr zu erwarten, unzufrieden mit ihr zu sein. Sie hat noch einiges zu tun, die Arbeit ist noch nicht erledigt. Aber wie, will sie sie fragen, obwohl sie sie ja nicht versteht und kaum antworten kann. Sie will nicht diese schmale Treppe hinaufgehen und dort die kleinen Zimmer mit den niedrigen Decken durchsuchen. Das Mädchen wird sie womöglich dort oben erwarten, irgendwo im Dunkeln lauern, mit einem scharfen Messer. Die Schlampe.
Und was soll sie mit diesen Wunden machen? Sie will schon auf ihre Achsel deuten und der alten Frau den klaffenden Schnitt zeigen, als die Alte mit dem Kopf zur Wand gegenüber dem Herd weist. Dann nickt sie ihr mit ihrem lederigen Schrumpfkopf zu. Praiala sieht sie fragend an. Sie nickt erneut und hebt den Kopf, öffnet den Mund und entblößt ihre dunklen Zähne.
Praiala schaut zur Wand, und im gleichen Moment hört sie das leise Knarren der Tür am anderen Ende des Flurs. Sie hebt das Sonnenszepter. Hazitai ist leise die Treppe heruntergekommen und wartet im Wohnzimmer auf sie. Und sie hat garantiert auch den toten Baar gesehen.
Die Geweihte schluckt und geht langsam auf die Küchentür zu. Dann zögert sie. Fragt sich, ob sie wirklich ins Wohnzimmer gehen sollte. Vielleicht wartet Hazitai ja auch im Flur auf sie. Ja, die Tür ist bewegt worden. Sie ist sich sicher, dass sie sie nicht so halb offen gelassen hat. Oder sie ist eben doch von allein so weit aufgeschwungen und das Mädchen ist gar nicht die Treppe heruntergekommen, sondern versteckt sich immer noch im oberen Stockwerk.
Sie hält den Atem an, bückt sich und geht auf die Eingangstür zu, steigt über Baar hinweg und tritt auf die Wiese. Dann streckt sie sich und sieht durch das kleine Fenster ins Wohnzimmer. Es ist zu dunkel dort drin, um von hier aus etwas zu erkennen.
Sie geht näher an das kleine Fensterloch heran, setzt einen Fuß auf die hervorstehenden Steinquader der verwitterten Fassade, die dabei leicht abbröckeln. Hazitai erscheint so plötzlich vor ihr, dass Praiala beinahe laut aufschreit.
Sie steht da zwischen den Musikinstrumenten der Jugendlichen, vornübergebeugt und starrt zu Boden. In dieser Haltung kann sie sie am Fenster nicht bemerken. Sie trägt eine abgewetzte, lederne Hose und eine schwarze Bluse und horcht angespannt an der Tür des Wohnzimmers. Klammert sich an den Griff, bereit die Tür aufzureißen und sich auf die Geweihte zu stürzen, wenn sie eintritt. Vielleicht plant sie auch, die Tür zuzuschlagen, um Praialas Waffe einzuklemmen. Oder sie will hinauskriechen und sie von hinten überraschen, wenn sie am Zimmer vorbeikommt. Gar nicht dumm. Sie will sie. Hat sie immer gewollt. Keine Frau hat sich je so sehr nach ihr gesehnt – um sie umzubringen.
Praiala kocht innerlich, Schweiß strömt über ihr Gesicht. Sie humpelt über die Wiese zur Seite und späht durch ein anderes Fenster in den Flur. Sie hört ihre Schritte, die sich leise durch den Turm bewegen, irgendwo dort im Dunklen. Aber sie kann die Treppe noch nicht erreicht haben. Wahrscheinlich ist sie in die Küche gegangen.
Praiala geht weiter am Turm entlang, das Sonnenszepter zum Schlag erhoben. Sie wird diese Schlampe in der Küche erledigen, bevor sie Hesindiane etwas antun kann. Sie spürt einen Eifer in sich, der schon an Erregung grenzt. Ihr ganzer Körper vibriert, und sie schwitzt heftig.
Da ist sie ja. Sie schlüpft gerade durch die schmale Hintertür der Küche. Sie sieht sie durch ein Fenster.
Praiala stolpert taumelnd voran, ihr Atem geht heftig, das Blut rauscht in ihren Ohren. Sie rennt mit erhobener Waffe am Turm entlang. Sie spürt den unbarmherzigen Drang, sie zur Strecke zu bringen. Vorsichtig geht sie um die Ecke und tritt auf die Wiese dahinter, die zu dem kleinen Obstgarten führt. Sie sieht sich hastig um und ist auf alles gefasst.
Niemand zu sehen.
Dort bewegt sich etwas. Im Obstgarten, hinter der Kutsche. Sie ist ganz schön schnell. Sie verschwindet zwischen den Bäumen jenseits des Feldwegs.
"Bei Praios’ ewigem Glanz ...", Praialas Sicht verschwimmt, als sie in ihre Richtung späht und das Zeichen des Auges schlägt. Die Hände zittern vor Aufregung. Sie blinzelt, um den ätzenden Schweiß aus den Augen zu bekommen, lässt die schwere Waffe zu Boden gleiten und versucht sich auf die karmale Kraft zu konzentrieren und einen Blendstrahl herabzurufen. Sie muss sie nur ein paar Sekunden lange sehen können. Da ist sie wieder. Dann verschwindet sie erneut aus ihrem Blickfeld. Sie ändert die Richtung, schlägt Haken. Ihre flinken Beine arbeiten sich durchs Unterholz.
Schließlich sieht sie nur noch ihre Umrisse als sie zwischen den dunklen Baumstämmen verschwindet, in Richtung des Feldweges. Dann ist sie nicht mehr zu sehen.
Verdammt.
Sie dreht sich um und geht eilig zum Turm zurück, die eine Hand immer auf die klaffende Wunde an ihrer Achsel gepresst.
Dann bleibt sie abrupt stehen. Dreht sich um und geht zurück zu dem Sonnenszepter, das sie ins Gras gelegt hat. "Scheiße." Sie kann nicht mehr klar denken. Sie ist völlig benommen vor Hunger und Durst. Je mehr die Aufregung von ihr abfällt, umso müder und erschöpfter fühlt sie sich. Dann aber durchzuckt sie wieder der eiskalte Überlebenswille und peitscht neues Adrenalin durch ihre Adern. Und so geht es hin und her, hin und her. Ihre Beine sind bleischwer. Sie kann kaum noch klar sehen. Sie spuckt aus und geht weiter.
Als sie in die Küche zurückkommt, ist Hesindiane noch da, unverletzt. Doch die alte Frau ist verschwunden.
Es gibt keinen Wasserbottich. Aber sie findet einen großen Holzkrug, mit dem Wasser aus dem Brunnen in den Turm transportiert worden ist. Wo der Brunnen ist, hat sie bislang noch nicht herausgefunden. Sie hebt den Krug an den Mund und trinkt gierig das lauwarme Wasser, bis ihr Magen sich zusammenkrampft und sie alles wieder ausspucken muss. Auch Hesindiane geht es nicht viel besser.
Es gibt auch eine Speisekammer. Darin ist es dunkel und kühl. Sie entdecken einige Laibe Schwarzbrot, teilen einen davon und beissen in die harte Kruste. Praiala saugt mehr daran, als dass sie wirklich etwas abbeißt. Das Brot ist grobkörnig und schmeckt nach Blut. Auch Pökelfleisch liegt dort, und sie bemerkt einen Sack mit Roten Beeten, außerdem Tonkrüge mit allerlei eingelegtem Gemüse und Obst, die auf einem Regal aufgereiht nebeneinander stehen, daneben ein paar verschrumpelte Äpfel, Salz sowie weiße Rüben und Karotten.
Egal, sie braucht zuerst Verbandszeug für ihre Wunden und warme, wetterfeste Kleidung für Hesindiane, sie hat nur eine zerschlissene Bluse und eine lederne Hose an und draußen ist es kalt.
Sicherlich hat die Bande hier im Turm entsprechende Vorräte.
Ganz langsam steigt Praiala, dicht gefolgt von Hesindiane, die Treppe hinauf ins erste Stockwerk, vorsichtig und die ganze Zeit bemüht, die klaffende Wunde an ihrer Achsel geschlossen zu halten. Sie muss sie dringend reinigen und verbinden. Am Ende der Treppe dreht sie sich einmal um die eigene Achse. Vielleicht ist Hazitai ja zurückgekommen und hat sich nach oben geschlichen. Wahrscheinlich nicht, aber sie spürt, wie sie sich anspannt, und fühlt sich so zerbrechlich, als müsse sie beim geringsten Geräusch in ihrer Nähe zerspringen.
Sie gehen den Korridor entlang. Werfen einen Blick in eines der Zimmer. Auf dem Boden liegen mehrere Schlafsäcke. Überall liegen Klamotten verstreut herum. Unordentliche, schmutzige und großspurige Jugendliche. Sie gehen hinein und suchen nach etwas Warmem für Hesindiane. Dann wendet Praiala sich jäh um und schnapp nach Luft. Beinahe schreit sie laut auf, als sie die drei Tiermasken sieht, die sie am ersten Tag ihrer Gefangenschaft getragen haben. Sie stehen nebeneinander auf einem uralten rohen Tisch, der aussieht, als wäre er von Barbaren gezimmert worden. Drei hässliche Fratzen, die sie anstarren. Haben sie diese Tierköpfe mitgebracht oder hier gefunden?
Ihre Kleider stinken nach Schweiß und anderen Körperausdünstungen. In dem Durcheinander auf dem Boden finden sie eine gefütterte Jacke aus Leder. An den Schultern ist sie mit Nägeln gespickt, an der Hüfte und den Ellbogen mit Nieten beschlagen, aber sie passt und ist warm.
Wieder im Korridor wirft Praiala einen Blick in ihr altes Zimmer und zu der kleinen Tür, hinter der die schmale Treppe bis ganz oben auf den Dachboden führt. Sie horcht. Eine Stimme ist zu hören. Was ist das? Sie geht auf die Tür zu, aber die Stimme wird schwächer. Sie merkt, dass sie nicht von oben, sondern von draußen kommt. Da singt jemand.
Sie geht zurück ins Zimmer und sieht durch die kleine Fensterluke. Im Obstgarten ist niemand zu sehen. Sie hält inne und horcht wieder. Der Gesang kommt von der anderen Seite des Turmes. Da sie es nicht über sich bringt, den Raum, in dem sie sie gefangen gehalten haben, zu betreten, steigen die beiden Frauen wieder die Treppe hinab. Praiala kommt atemlos, benommen und mit heftig schmerzenden Wunden in der Diele an.
Sie hebt die geweihte Waffe und geht auf die Küchentür zu. Die Tür zum Wohnzimmer ist noch immer geschlossen. Die Küche, das sieht sie nach einem kurzen panischen Blick, ist leer. Die Eingangstür steht offen.
Während Hesindiane im Turm bleibt steigt Praiala über Baar hinweg und geht nach draußen.
Die alte Frau steht neben der verkohlten Feuerstelle des Scheiterhaufens. Sie trägt ihr hochgeschlossenes schwarzes Kleid und schaut zum Waldrand. Der regungslose Körper von Zhandukan, der auf der Wiese liegt, scheint sie nicht weiter zu interessieren. Sie ist zwar sehr klein, aber ihre Stimme ist kräftig und hallt weit in den Wald hinein. Der Singsang, den sie von sich gibt, klingt beinahe wie ein tulamidisches Lied, erinnert Praiala aber gleichzeitig an die Gesänge der Schamanen. Die Melodie klettert die Tonleiter auf und ab, die Worte klingen fremdartig. Mit ihren kleinen Händen klatscht sie einen Rhythmus dazu. Der Gesang ist schlicht und wiederholt immer die gleichen Muster, wie bei einem Kinderlied. Wenige, immer gleiche Worte, die gleichen Töne, auf und ab, auf und ab. Schließlich erkennt sie intuitiv ein Wort: "Moder."
Dieses eine Wort wiederholt sie immer wieder am Ende des aus wenigen Worten bestehenden Verses: "Moder."
Mutter.
"Nein", murmelt sie entsetzt vor sich hin. "Bitte nicht."
Schlagartig, als würde man ihr einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gießen, begreift sie, was hier im Gang ist. Sie wiegt den Kopf hin und her, benommen und wie in Trance, und fragt sich, ob sie womöglich schon in den Niederhöllen angekommen ist. Kein Mensch könnte so etwas ertragen. Ist sie vielleicht doch zusammen mit ihren Gefährten draußen im Wald gestorben und in einem endlosen Alptraum der Finstersphären angelangt?
Sie ergreift mit beiden Händen den Schaft ihrer Waffe und hebt das Sonnenszepter.
"He, aufhören. In Namen des Herren Praios! Aufhören hab ich gesagt!"
Sie singt wie ein Kind, wie ein kleines Mädchen, hebt den Kopf und reckt die Arme in den Himmel. Sie starrt in den Himmel und ruft einen uralten Namen.
Wenn es so weit ist, wirst du dann mit uns singen?
Sie hat schon ein- oder zweimal den Verdacht gehabt, dass sie sie nur benutzt, aber sie hat nicht gewagt, es sich wirklich einzugestehen. Das passt einfach nicht zu einer solchen kleinen seltsamen Dame, die Eintopf kocht und in einem selbst geschneiderten Kleid in ihrem Heim herumtapst. Aber sie hat sie benutzt. Um die ungebetenen Gäste aus dem Turm zu bekommen. Sie sollte sie ihr vom Hals schaffen, und nun liegen sie verblutet auf dem Boden. Die ganze Bande hat sich hier eingenistet, ohne zu fragen, und wollen nicht mehr gehen. Sie ist zu alt, um sie selbst zu vertreiben, also hat sie Hilfe gesucht. Zhandukan ist ein bösartiger Kerl, dem sie alles Schlechte wünscht, das hat Praiala gleich in ihren kleinen schwarzen Augen erkannt. Sie hat die Bande von Jugendlichen eine Weile herummachen lassen, damit sie sich in Sicherheit wiegen. Aber dann hat sie die Gefangene befreit, damit sie ein paar Dinge für sie erledigt. Sie hat den Wald überlebt und den Terror dieser Jugendlichen, weil sie eine Aufgabe für sie hat. Weil sie die Stärkste und Zäheste gewesen ist. Zusammen mit den zwei Männern, die hierhergekommen waren, um alte Artefakte zu finden, war sie diejenige, die den Räubern die ihren Turm besetzen am ehesten gewachsen ist. Sie konnte sie für ihre Zwecke einspannen, jedenfalls für eine Weile.
Sie hat sie von Anfang an manipuliert, damit sie ihre Rolle spielt, sie musste sich zwischen Bäumen, Felsen und im Unterholz verlaufen, sie musste den Weg gehen, den ihre Vorfahren mit ihren Opfern gegangen sind. Und nun, nachdem sie die Angelegenheit für sie erledigt hat, ruft das kleine Mädchen nach ihrer Mutter. Weil sie noch immer geopfert werden soll. Deshalb hat sie ihr das Gewand und die Blumenkrone hingelegt.
"O Herr Praios, bitte das nicht."
Mit zittrigen Armen hält sie das Sonnenszepter und nähert sich der kleinen Gestalt, die ihr den Rücken zukehrt während sie zu ihrem Gesang hin und her hüpft.
All das kann doch einfach nicht wahr sein. Sie denkt an Ron, der direkt vor ihr aus ihrem Zelt weggeschleift wurde und dann blass, besudelt und nackt zwischen den Ästen hing. Sie erinnert sich an die Arme von Quin, die auf ihren Schultern gelegen haben, bevor er aufgeschlitzt und ausgenommen wurde wie ein erlegtes Tier von einem Jäger. Und sie erinnert sich an die dünnen kleinen Gestalten, die sich wie Puppen bewegen, dort oben auf dem Dachboden, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Sie beisst die Zähne zusammen, um nicht von diesem ganzen Horror überwältigt zu werden. Macht zwei weite Schritte auf sie zu, holt weit aus und schlägt mit aller Kraft zu.
Die alte Frau gibt einen überraschten Schrei von sich, als würde sie von hinten gestoßen und alle Luft mit einem Mal aus ihr entweichen. Sie wird von dem Schwung des kraftvollen Hiebes mitgerissen, zu Boden geschleudert und fällt direkt aufs Gesicht. Und bewegt sich nicht mehr. Sie hat sie direkt ins Genick getroffen.
Praiala hält noch mit bebender Hand die schwere Hiebwaffe und schaut auf die alte Frau herab.
Der Saum ihres schwarzen staubigen Kleids ist über die Knie gerutscht. Ihre Beine sind spindeldürr und mit struppigen weißen Haaren bedeckt. Die Haut ist rosig. Die Beine sind an den Knien eigenartig geformt, wachsen in die falsche Richtung. Und am Ende ihrer Ziegenläufe sind kleine weiße Hufe zu sehen. Deshalb sind ihr ihre Schritte so unnatürlich laut erschienen.